Avifaunistische Kommission
der Nordrhein-Westfälischen Ornithologengesellschaft
(NWO)



Vogel des Monats
April 2009

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Kalte Winter bringen manche nordische Vogelart auf unseren deutschen Strom:
Die Gryllteiste von der Sieg

Von Eckhard Möller

Ein „Unicum“ war der Vogel, über den Alexander Koenig in seinem Vortrag „Ornithologische Miscellen aus dem Rheinland“ auf der Versammlung des Botanischen und des Zoologischen Vereins für Rheinland-Westfalen berichtete, die vom 2. bis 4. Juni 1922 in Krefeld stattfand:

„Kalte Winter bringen oft manche nordischen Vogelarten auf unsern deutschen Strom. Das war auch in den auffallend lange anhaltenden kalten Tagen im Januar und Februar des Jahres 1917 der Fall. Naturgemäß kommt dem verschwindend geringen Kreise der beobachtenden Vogelkenner nur ein Bruchteil der uns besuchenden Gäste zu Händen, während die größere Anzahl unerkannt am Einwanderungsorte verweilt, um bei milderer Luftströmung wieder in die heimatlichen Gefilde zurückzuziehen.

Da kann ich zunächst von einer Vogelerscheinung berichten, die mit Recht jedem Kenner auffallen wird, um so mehr als dieselbe bis jetzt fürs Rheinland überhaupt noch nicht nachgewiesen ist, das ist die Grylllumme oder Teiste (Cephus grylle L. – Im Original so geschrieben. E.M.). Der Vogel wurde von meinem Jagdaufseher Josef Engels auf der Sieg unweit der Bergheimer Fähre am 8. Februar 1917 im Wasser schwimmend und tauchend angetroffen und geschossen. Dieser Vogel ist im Norden beheimatet und kommt als Brutvogel in Norwegen und Schweden vor, von da weiter nordwärts steigend. Man findet die zwei wundervoll gezeichneten, für den Vogel verhältnismäßig großen Eier unter mächtigen Steinblöcken in tiefen Runsen und Spalten. Gegen Ende des Sommers fallen die Jungen aus, werden von den sie zärtlich liebenden Alten treu geführt und wachsen verhältnismäßig schnell heran. Das erlegte Exemplar halte ich für einen jungen Vogel, der natürlich das Winterkleid trägt, es ist ein Weibchen. Dieser Vogel ist, wie bereits gesagt, für die Rheinlande bis jetzt ein Unicum.“

Fotos

Alexander Koenig (1858-1940) war, mit beträchtlichem Vermögen ausgestattet, Zeit seines Lebens Jäger, Eiersammler, Forschungsreisender und Ornithologe. Die meiste Zeit seines Lebens, vor allem aber auf mehreren privat finanzierten, ausgedehnten Expeditionen schoss er Massen von Vögeln und anderen Tieren, nahm Nester aus oder ließ sie ausnehmen und legte damit den Grundstock für die naturkundlichen Sammlungen in dem von ihm später gegründeten Museum Alexander Koenig in Bonn. Dabei berichtete er in seinen ausführlichen Beschreibungen dieser Reisen immer mit bemerkenswerter Offenheit über die Schlachtfeste, die er und seine Mitarbeiter im Gelände anrichteten. „Wir räumten unter den Gänsen radikal auf, indem wir selbstredend nicht nur die Eier mitnahmen und die reizenden, in grauweißen Flaum gehüllten Dunenjungen griffen, sondern auch beide Paare zu Nutz und Frommen der Wissenschaft erlegten. Tabula rasa!“ – schrieb er 1911 über eine seiner drei Spitzbergen-Touren (Koenig 1911, Möller & Nottmeyer-Linden o.J.). Auf den arktischen Inseln wird er auch die Eier der Gryllteiste kennengelernt und ausgeblasen haben, die er in seinem Vortrag 1922 beschrieb.

Der Schuss von Josef Engler auf einen ihm damals wahrscheinlich nicht bekannten Schwimmvogel tötete die für Nordrhein-Westfalen erste und bis heute einzige Gryllteiste (Cepphus grylle). Von dieser Alkenart sind bis heute nur sehr wenige Nachweise im Binnenland bekannt (Glutz v. Blotzheim 1999). In den benachbarten Bundesländern Hessen und Rheinland-Pfalz sind noch keine gefunden worden (Stefan Stübing AKH, Ewald Lippok AKRP brfl.). Zang (1991) führt für Niedersachsen keine Nachweise abseits der Küsten an. In Bayern allerdings wurde im Januar 1924 „bei großer Kälte und nach schweren Stürmen“ eine Gryllteiste im Maintal westlich von Kulmbach geschossen und dann ausgestopft (Wüst 1981).

Aus Baden-Württemberg gibt es nur einen Nachweis vom März 1870 bei Freistett (Kreis Offenburg); der Vogel soll heute im Naturhistorischen Museum in Colmar (Frankreich) aufbewahrt werden. Eine weitere Gryllteiste wurde nicht weit von Baden-Württemberg entfernt geschossen/gefunden: Am 12.11.1860 an der Ill unterhalb von Straßburg in Frankreich (Hölzinger 2001).

In Thüringen wurde im Winter 1913 ein Jungvogel an der Unstrut im heutigen Unstrut-Hainich-Kreis ebenfalls geschossen (v. Knorre et al. 1986). Bauer et al. (2005) führen zwei Nachweise aus Sachsen vom März 1942 und vom November 1978 an. In Brandenburg wurden „vor 1834“  sogar zwei Gryllteiste in der Umgebung von Berlin erlegt, die dann in einer Sammlung präparierter Vögel aufgestellt wurden (Rutschke 1983, ABBO 2001). Mehr als 150 Jahre später, nämlich am 21. Februar 1988, konnte Rainer Mönke auf dem Berliner Müggelsee eine Gryllteiste beim Tauchen und bei Gefiederpflege beobachten (Mönke 1990, ABBO 2001) – sie hat zumindest bis zu dem Zeitpunkt den Sichtkontakt überlebt.

Aus der damaligen Tschechoslowakei gibt es einen Nachweis von der Elbe bei Podebrady rund 50 Kilometer östlich von Prag vom 17.2.1979 (Glutz v. Blotzheim 1999) und einen vom Januar 1986 (Bauer et al. 2005).

Als die rheinische Gryllteiste geschossen wurde, herrschte in Norddeutschland bitterkaltes Wetter vor. Nach den Daten der damaligen Wetterstation Bremen lagen die Tiefsttemperaturen  vom 3. bis zum 8. Februar 1917 zwischen -9,6 und -15,1 Grad Celsius. Dabei war die Wetterlage stabil mit nur schwachen Winden, vom 5. bis zum 7. Februar von Nordost in Stärken von 2-3.

Mildenberger (1982) stellt den Vogel von der Sieg in die Unterart Cepphus grylle grylle, die in der Ostsee vorkommt. Insgesamt sind aber die Unterarten nur gering differenziert (Bauer et al. 2005).

Alexander Koenig war sicher hoch erfreut über die seltene Beute, die ihm sein Jagdaufseher brachte. Geärgert wird ihn nur haben, dass er nicht selbst den Schuss auf den ungewöhnlichen Gast aus dem Norden abfeuern konnte…


Danksagung:
Mein Dank geht vor allem an Darius Stiels und Kathrin Schidelko, die nach mühevollem Suchen in der riesigen Vogelsammlung im Museum Alexander Koenig, die lange wegen Umbauarbeiten „verpackt“ war, die Gryllteiste gefunden und fotografiert haben.
Außerdem danke ich Stefan Stübing und Ewald Lippok von den Avifaunistischen Kommissionen in Hessen und Rheinland-Pfalz für ihre Auskünfte, Dr. Jan Ole Kriegs und Dr. Wolfgang Beisenherz für Literaturangaben und Florian Herzig für die Wetter-Recherchen.



Literatur:

ABBO (2001): Die Vogelwelt von Brandenburg und Berlin. Rangsdorf.

Bauer, H.-G., E. Bezzel & W. Fiedler (2005): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas – Nonpasseriformes – Nichtsperlingsvögel. Wiebelsheim.

Glutz v. Botzheim, U. & K. Bauer (1999): Handbuch der Vögel Mitteleuropas Band 8. Wiesbaden.

Hölzinger, J. u.a. (Hg.) (2001): Die Vögel Baden-Württembergs Band 2.2. Stuttgart.

v. Knorre, D., G. Grün, R. Günther & K. Schmidt (1986): Die Vogelwelt Thüringens. Wiesbaden.

Koenig, A. (1911): Avifauna Spitzbergensis. Selbstverlag.

Koenig, A. (1922): Ornithologische Miscellen aus dem Rheinland. Berichte über die Versammlungen des Botanischen und des Zoologischen Vereins für Rheinland-Westfalen 1920-22: 8-12.

Koenig, A. (1938): Autobiographie. Bonn.

Mildenberger, H. (1982): Die Vögel des Rheinlandes Band 1. Düsseldorf.

Möller, E. & K. Nottmeyer-Linden (o.J.): Vogeljagd in der Provinz – Der Naturforscher und Vogelsammler Alexander Koenig auf Gut Böckel. Doberg-Museum Bünde.

Mönke, R. (1990): Eine Gryllteiste Cepphus grylle (L.) auf dem Berliner Müggelsee. Beiträge zur Vogelkunde 36: 237-239.

Rutschke, E. (1983): Die Vogelwelt Brandenburgs. Jena.

Wüst, W. (1981): Avifauna Bavariae Band I. München.

Zang, H. (1991): Gryllteiste. In: Zang, H., G. Großkopf & H. Heckenroth (Hg.): Die Vögel Niedersachsens und des Landes Bremen – Raubmöwen bis Alken. Naturschutz und Landschaftspflege in Niedersachsen Sonderreihe B Heft 2.6: 188.

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Anschrift des Verfassers:
Eckhard Möller
Stiftskamp 57
32049 Herford