Avifaunistische Kommission
der Nordrhein-Westfälischen Ornithologengesellschaft
(NWO)



Vogel des Monats
Februar 2008

pdf-Version








Hier geht es zu den älteren Beiträgen:

Archiv




Er kam aus Amerika: Der Grasläufer


Von Karl-Heinz Kühnapfel


Von der Avifaunistischen Kommission der NWO wurde ich gebeten, über den ersten Nachweis eines Grasläufers Tryngites subruficollis für Nordrhein-Westfalen zu berichten. Diese Beobachtung liegt zwar schon 37 Jahre zurück, aber ich kann mich noch sehr gut daran erinnern.

Seit 1961 hatte ich die Gelegenheit, mich intensiv mit durchziehenden Watvögeln zu beschäftigen. Im Laufe der Jahre entwickelte sich eine gute Artenkenntnis, und die Rufe von zahlreichen Arten waren mir sehr vertraut. Jeder fremde Vogelruf wäre mir sofort aufgefallen. Jede Woche, manchmal auch mehrmals pro Woche, wurden die Limikolen an den Klärteichen vor den Toren der Stadt Kamen gezählt.

Am 9. September 1970 – an den Vortagen hatte es kräftig geregnet und gestürmt, deshalb fielen die Zählungen aus – klappte es endlich wieder mit der Bestandserfassung. Morgens hatte mein Sohn seinen ersten Schultag, und erst nach dem Kaffeetrinken konnte ich schnell noch zu den Klärteichen. Gerade hatte ich den Damm erstiegen, als dicht neben mir eine Limikole vorbeiflog, welche ich nicht wie sonst üblich auf den ersten Blick bestimmen konnte. Uferläufergroß, oberseits einfarbig bräunlich, die Unterflügel wirkten weiß, rasanter Flug, und eigenartigerweise landete sie auf einem umgepflügten, abgetrockneten Acker. Irgendwie komisch, dachte ich. Mit meinem 8x40-Glas war der Vogel in 150m Entfernung nicht mehr zu sehen. Jetzt erst mal die Limikolen auf den Klärbecken zählen und dann gleich den Acker kontrollieren, waren meine weiteren Gedanken. 5 Flußuferläufer, 3 Sandregenpfeifer, 3 Flussregenpfeifer und 3 diesjährige Kampfläufer waren die „Beute“.

Das erste vordere Becken war schon seit Wochen völlig trocken, hier rasteten keine Watvögel. Im letzten Moment, vor dem Verlassen der Kläranlage, sehe ich aus den Augenwinkeln auf dem hellfarbenen abgetrockneten Schlamm eine Bewegung und entdecke die mir unbekannte Limikole. Sofort fällt die rostgelbe Kopf-, Wangen- und Brustfärbung auf. Schnell wird das 25fache Teleskop in Stellung gebracht, und ich kann jetzt deutlich weitere Kennzeichen feststellen: Größe wie Uferläufer, kleiner als Kampfläufer-Weibchen, zierlicher, Oberseite braun mit hellen Federrändern, ähnlich wie beim Kampfläufer-Jugendkleid, die Schultern dunkel getropft, Oberkopf und Nacken gefleckt, die Fleckung wird zum Rücken hin unterbrochen. Auffallend rostgelb an Kopf, Kehle und Brust, zum Bauch hin heller werdend. Unterseite ungefleckt mit Ausnahme einer schwachen Fleckung vor dem Flügelbug. Beine gelb. Der Kopf wirkt klein und rund, das Auge darin groß und dunkel, der Schnabel ist schwarz, kurz und dünner als beim Uferläufer.

Der Vogel suchte auf den trockenen Flächen nach Nahrung, und kleine Wasserpfützen wurden umgangen. Er flog auf, wechselte das Becken, landete dort auch auf einer trockenen Stelle, aber diesmal von dunkler Farbe. Der helle Vogel bildete einen deutlichen Kontrast.

Ich konnte mich ihm bis auf 15m nähern, er war nicht unruhig, wirkte zutraulich und lief sogar direkt auf mich zu. Beim Auffliegen hörte ich als ersten Laut ein kaum wahrnehmbares „tiet“. Später flog er wieder zum trockenen ersten Becken, und ich vernahm ein gequetschtes „keet“ oder „tweet“. In der Dämmerung verließ ich die Kläranlage, der Vogel war immer noch da. Ich hatte eine gewisse Ahnung: Sollte es sich um einen Grasläufer handeln? Schnell nach Hause und im „Peterson“ (damals das beste Bestimmungsbuch) nachgeschaut. Hier wurde mein Verdacht erhärtet. Jetzt lief das Telefon heiß: Ich versuchte, andere Ornithologen zu erreichen, um meine Beobachtung bestätigen zu lassen.

Am nächsten Tag, dem 10. September 1970, morgens um 7 Uhr standen die Dortmunder Ornithologen Heinz-Otto Rehage und Reinhold Neugebauer auf meiner Terrasse, und wir fuhren gemeinsam zur Kläranlage. Ich war nervös: Hoffentlich ist der Vogel noch da. Wir fanden ihn wieder auf den abgetrockneten Schlammflächen, und beide Beobachter bestimmten ihn als Grasläufer. Wegen der schlechten Wetterlage konnte leider kein Foto gemacht werden – damals kannte man noch kein digitales Fotografieren.

Gemeinsam hörten wir einmal noch ein trillerndes tiefes „prürrt“, welches im ‚Peterson’ als „pr-r-r-rit“ wiedergegeben ist. Dann konnten wir noch ein gequetschtes zweisilbiges „kekü“ hören, die Betonung liegt auf der ersten Silbe. Diesmal konnte der Grasläufer mehrmals im Flug beobachtet werden: Die Unterflügel wirkten weiß, der Flug war sehr schnell und wendig. Er flog auch die abgetrockneten Felder an, wurde dort aber von Kiebitzen vertrieben und kam zur Kläranlage zurück. Hier gab es dann – rein zufällig – eine Vergesellschaftung mit zwei Sandregenpfeifern.

Am 11. September konnten dann noch Manfred Koch (Vorsitzender des Deutschen Bundes für Vogelschutz Dortmund), Manfred Ochowski (ein Fotograf) und nochmals Heinz-Otto Rehage den Vogel beobachten. Der Grasläufer zog um 7.30 Uhr mit Kiebitzen in östlicher Richtung ab und kam nicht wieder zur Kläranlage zurück. Ein Glück für den Vogel, denn es wurde schon überlegt (von der Leitung des Naturkundemuseums Dortmund), ihn mit einem gezielten Schuss als Beleg zu sichern…

Das war der erste und bis vor kurzem auch einzige Nachweis eines Grasläufers für Nordrhein-Westfalen.

Verbreitung:
Der Grasläufer hat ein relativ kleines Brutgebiet in der arktischen Tundra. Dieses erstreckt sich vom nordöstlichen Kanada über das nördliche Alaska bis ins nordöstliche Sibirien. Die gesamte Population wird heute auf nur etwa 25.000 Individuen geschätzt. Um 1900 sollen es noch Millionen gewesen sein. Der nach 1920 einsetzende Rückgang ist wohl auf intensive Bejagung besonders in den Winterquartieren zurückzuführen. Die Art zieht über das Innere Nordamerikas durch Mittelamerika zu den Überwinterungsgebieten in Südamerika von Peru und West-Brasilien bis Zentral-Argentinien.

Nachweise aus Mitteleuropa:
Der erste Nachweis dieses nordamerikanischen Brutvogels für Deutschland gelang Heinrich Gätke, als er am 9. Mai 1847 einen Grasläufer auf Helgoland erlegte (Naumann 1902). Im ‚Naumann’ wird dieser Vogel als „Rötlicher Uferläufer Tryngites rufescens“ bezeichnet. Die Abbildung dort zeigt sehr deutlich einen Nackenring, welcher auch bei unserem Vogel festgestellt wurde. Da die Unterseite ‚unseres’ Grasläufers ab Bauch zum Schwanz hin bedeutend heller wurde, könnte es sich nach Naumann (1902) und Niethammer (1942) um einen jungen bzw. einjährigen Vogel gehandelt haben.

Am 2. Juni 1966 wurde dann ein Grasläufer auf Fehmarn gesehen. Weitere Nachweise gelangen am 15. September 1968 und am 11. Oktober 1978 im Rheindelta am Bodensee auf österreichischem Gebiet. Bis 1977 wurden noch weitere fünf Nachweise aus Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen bekannt. Interessant ist auch, dass bis 1978 in Großbritannien und Irland 334 Grasläufer festgestellt wurden, davon allein 19 Nachweise im Herbst 1968. Die Deutsche Seltenheitenkommission (DSK) listet für Deutschland von 1977 bis 2000 weitere 20 Nachweise auf.

Foto 1

Auf den zweiten Grasläufer mussten die Beobachter in Nordrhein-Westfalen sehr lange warten. Am Mittag des 5. Mai 2006 fiel Hendrik Weindorf in den Rieselfeldern Münster auf große Distanz eine kleine Limikole auf, die ihm seltsam vorkam. Wegen der zu großen Entfernung wollte er sich nicht festlegen, aber er hatte einen Verdacht. Er informierte Holger Lauruschkus, der nachmittags auf die Suche ging und tatsächlich auf dem Schlamm der Fläche E1 einen Watvogel von eigenartiger Gestalt finden konnte. Sein Kopf war eigentümlich klein, der Hals dünn. Er stakste auf langen Beinen ganz langsam, seltsam verzögernd durch das flache Wasser, die Beine unterhalb des Knies auffallend abgewinkelt nach vorne streckend. Aus dem kleinen Kopf stach ein großes dunkles Auge hervor. Es war ein Grasläufer…

Holger Lauruschkus schickte sofort SMS-Botschaften an mehrere Münsteraner Ornithologen, von denen es einige tatsächlich noch schafften, den aufregenden Vogel zu sehen. Michael Klein von der Biologischen Station Rieselfelder gelang es dann sogar noch, drei Fotos von dem seltenen Gast zu machen. Schon nach einer halben Stunde flog er auf und schloss sich einem Trupp von 15 Kampfläufern an, die Richtung Reservat unterwegs waren. Dort konnte er aber trotz intensiver Suche auch durch zu spät gekommene Beobachter nicht wiedergefunden werden.

 Foto 2

Die Meldung dieses Münsteraner Grasläufers wird derzeit gerade von der Avifaunistischen Kommission der NWO bearbeitet und danach an die Deutsche Seltenheitenkommission (DSK) weitergeleitet. Es wird - nach Anerkennung - der zweite Nachweis für Nordrhein-Westfalen sein. Hoffentlich lässt der dritte nicht allzu lange auf sich warten…

Danksagung: Ich möchte mich bei Holger Lauruschkus, Michael Klein (beide Münster) und Axel Halley (Hamburg) für die freundliche Unterstützung bedanken.



Literatur:
Adam, G. (1969): Grasläufer (Tryngites subruficollis) im Rheindelta am Bodensee. Ornithologische Mitteilungen 21: 15-16.
Bauer, H.-G., E. Bezzel & W. Fiedler (2005): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas. Aula-Verlag, Wiebelsheim.
Colston, P. & P. Burton (1988): Limikolen. BLV Verlag, München.
Del Hoyo, J., A. Elliot & J. Sargatal (1996): Handbook of the Birds of the World, Vol. 4. Lynx, Barcelona.
Deutsche Seltenheitenkommission (1977-2000). Seltene Vogelarten in Deutschland. Limicola.
Glutz von Blotzheim, U.N., K.M. Bauer & E. Bezzel (1975): Handbuch der Vögel Mitteleuropas Band 6, Aula-Verlag, Frankfurt/Wiesbaden.
Gries, B. et al. (1979): Anhang zu Avifauna von Westfalen. Abhandlungen aus dem Landesmuseum für Naturkunde Münster 41: 477-576.
Hayman, P., J. Marchant & T. Prater (1991): Shorebirds. Christopher Helm, London.
Johnsgard, P.A. (1981): The Plovers, Sandpipers and Snipes of the World. University of Nebraska Press, Lincoln/London.
Kühnapfel, K.-H. (1970): Grasläufer (Tryngites subruficollis) in Westfalen. Ornithologische Mitteilungen 22: 256-257.
Kühnapfel, K.-H. (1973): Der Limikolendurchzug an der Kläranlage Kamen (Westf.). Anthus 10: 1-17.
Kühnapfel, K.-H. (2006): Zur Vogelwelt der Kläranlage Kamen (Westfalen). Charadrius 42: 120-155.
Makatsch, W. (1981): Die Limikolen Europas. Neumann-Neudamm, Melsungen.
Peterson, R., G. Mountfort & P.A.D. Hollom (1968): Die Vögel Europas. Parey, Hamburg/Berlin.
Naumann, J.A. (1902): Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas, Band IX.
Niethammer, G. (1942): Handbuch der deutschen Vogelkunde, Band 3. Akademische Verlagsgesellschaft, Leipzig.

Anschrift des Verfassers:
Karl-Heinz Kühnapfel
Heidestr. 25
59174 Kamen-Methler