Avifaunistische Kommission
der Nordrhein-Westfälischen Ornithologengesellschaft
(NWO)



Vogel des Monats
Juni 2007

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Er kommt aus dem Süden: BARTGEIER


von Bernhard Walter


„Ein Flugsaurier“ – war der erste Gedanke, als Frank Püchel-Wieling und ich den Vogel über uns am Himmel sahen. Wie in jedem Frühjahr seit 1993 waren wir in den von der Biologischen Station Gütersloh/Bielefeld e.V. betreuten Feuchtwiesenschutzgebieten im Kreis Gütersloh unterwegs, um die Gelege und die Jungen der Wiesenlimikolen vor dem Ausmähen zu bewahren.

So auch am 9. Juni 2006, als wir in der Rietberger Emsniederung unser Fahrzeug anhielten, um die dort lebenden Uferschnepfen zu beobachten. Nachdem wir erfreut festgestellt hatten, dass Jungvögel erbrütet worden waren, schnellte der Blick plötzlich nach oben…

Genau in dem Moment klingelt mein Handy,  ein Landwirt aus den Feuchtwiesen Hörste ist dran und fragt:

Die Brachvögel seien ja jetzt geschlüpft, ob er dann auch mähen könnte…
Der ist groß…
…nein, dann laufen die Jungen sofort auf die gemähte Fläche und werden beim Heuwenden…
Der ist sehr groß…
… auch in zwei Tagen sind die Jungen noch nicht wesentlich größer….
Der ist riesig…
Frank reißt hastig das Spektiv aus dem Auto, ich das Fernglas ans Auge:
Er ist gigantisch, der
…was?
…in den nächsten Tagen schauen wir uns noch mal an, wo die Jungen hingelaufen sind….und dann vielleicht am Wochenende mähen…ja okay…bis die Tage …

Das Handy mit nicht jugendfreien Ausrufen ins Auto geschmissen…

Schnell ans Spektiv:  Zwei Winzlinge umkreisen das Objekt - klarer Fall: Mäusebussarde.
Sch… die Kamera raus aus dem Auto, Weitwinkel ist drauf…, auf das 300er wechseln…, ein Bild … weg!

Bartgeier Foto 1

Auch wenn der Bart am Geier nicht zu erkennen war - die Merkmale, die den Bartgeier ausmachen, waren doch offensichtlich: Keilförmiger Schwanz, riesige Spannweite bei relativ schmalen Flügeln, ein Kopf wie „angespitzt“. Die insgesamt dunkle Erscheinung mit einem deutlich helleren Bauch sprach für einen immaturen Vogel.

Nachdem an der Artzugehörigkeit kein Zweifel mehr bestand, kam der bange Verdacht auf: Ein Gefangenschaftsflüchtling! Allerdings ist ein Bartgeier mit seiner Spannweite von fast 3 Metern kein rechter Ziervogel, also sollte auch der Kreis der potenziellen Halter relativ übersichtlich sein. Die Nachfrage bei der Adlerwarte Berlebeck im benachbarten Kreis Lippe, erste Adresse für Greifvögel in unserer Region, verlief negativ bzw. sehr positiv: Kein Bartgeier entflogen! Auch wurde uns versichert: Es gibt nur sehr wenige Halter, und wenn da einer entflogen ist, dann spricht sich das natürlich sofort rum.

Nachfragen in Ornithologenkreisen ergaben schnell: Es gibt weitere Beobachtungen! Bereits am 17. Mai 2006 wurde ein ebenfalls junger Bartgeier von Arne Hegemann in den Niederlanden bei Appelscha  südlich von Assen beobachtet und fotografiert. Vermutlich derselbe Vogel wurde am Vortag etwas weiter südlich und am Folgetag etwas weiter nördlich gesehen (Hegemann brfl.).

Lammergeier Foto 2

Am 2. Juni 2006, also wenige Tage vor unserer Rietberger Beobachtung, wurde ein nach Westen durchziehender Bartgeier in Mecklenburg-Vorpommern in der Nähe von Greifswald von Christoph Völlm, Kai Gauger und Doro Pietzsch gesichtet und auch fotografiert, ebenfalls ein immaturer Vogel. Es könnte sich demnach um dasselbe Individuum gehandelt haben, dass etliche Tage fernab seiner Heimat bei uns im Norden herumvagabundiert ist.  Sicher belegbar ist das allerdings nicht.

Bartgeier Foto 3

Der erste Bartgeier-Nachweis für Mecklenburg-Vorpommern war übrigens ein Vogel, der sich vom 17. bis zum 22. Mai 2001 auf Rügen herumtrieb und am 22. Mai auch über der Insel Hiddensee gesehen wurde (Müller 2004). Wo er mal erbrütet worden war, ließ sich danach nicht mit Sicherheit ergründen; die Vermutungen der Experten reichten von den Alpen bis zu den Pyrenäen (Jachmann brfl.).

Bartgeier Foto 4

Die Beobachtung des Bartgeiers in der Rietberger Emsniederung im Juni 2006 ist von der Avifaunistischen Kommission der NWO einstimmig anerkannt worden. Sie wird jetzt mit diesem Votum der Deutschen Seltenheitenkommission (DSK) zur endgültigen Entscheidung vorgelegt. Falls diese zu demselben Ergebnis kommt, ist es der erste Nachweis eines Bartgeiers für Nordrhein-Westfalen.

Das Verbreitungsgebiet des aufgrund seiner Lebensweise bei uns sicher immer seltenen Vogels erstreckt sich ursprünglich über die hohen Gebirgsregionen Nordafrikas, Südwest-Arabiens, Asiens und Europas. Aus vielen Bereichen war die Art allerdings schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschwunden. Die Hauptursache für den Rückgang war, wie bei vielen anderen Greifen auch, die direkte massive Verfolgung und ein breites Spektrum an Störungen durch den Menschen. Auch die Bestände in Deutschland und Österreich waren bereits zur vorletzten Jahrhundertwende erloschen. 1978 wurde ein Auswilderungsprogramm zur Wiederansiedlung des Bartgeiers im Alpenraum gestartet, in dessen Rahmen von 1986 bis 2006 insgesamt 144 Vögel freigelassen wurden. Seit 1997 gibt es dort auch wieder frei lebende Paare, die bis 2006 immerhin 33 Jungvögel erbrütet haben (www.wild.unizh.ch/bg/).

Möglicherweise hat sich ja ein solcher Junggeier nach Norden verflogen. Bei Bartgeiern aus dem Wiedereinbürgerungsprojekt wurden zur individuellen Erkennung einzelne Schwungfedern gebleicht; die hätten zu sehen sein müssen, waren es aber bei allen Beobachtungen in Norddeutschland bzw. den benachbarten Niederlanden nicht. Allerdings fallen die Schwungfedern nach der ersten Mauser im Alter von 2-3 Jahren aus, so dass diese Zuordnung dann auch nicht mehr getroffen werden kann. Also kann über die Herkunft des  beobachteten Vogels (oder der Vögel) nur spekuliert werden, denn warum sollte sich nicht ein Pyrenäen-Geier (oder vielleicht sogar einer aus der Mongolei?) mal kräftig verfliegen? Bei einer derartigen Spannweite und heftiger Thermik kann so einiges passieren!

Neben dem Bartgeier trieben sich im letzten Jahr auch unglaubliche Mengen an Gänsegeiern (d.h. viele Dutzend!) und sogar mindestens ein Mönchsgeier im nördlichen Deutschland herum. Möglicherweise zeigen EU-Richtlinien, die die umgehende Beseitigung von totem Vieh vorschreiben, oder die Schließung von Fütterungsstellen an den Auswilderungsorten hier ihre Wirkung: Die Geier finden nicht mehr genug zu fressen und versuchen neue Nahrungsgründe zu erschließen. Ob die allerdings bei uns in Nordrhein-Westfalen liegen, mag bezweifelt werden, denn alles Aas über Wühlmausgröße wird umgehend entfernt. Wir sind also überaus Geier-unfreundlich!

Zum Schluss eine Empfehlung an die Vogelbeobachter:
Den Blick immer schön regelmäßig nach oben richten, denn weiß der Geier, wann mal wieder ein Bartgeier den Weg in unser Bundesland finden wird. Kaum vorzustellen, wir würden ihn - mit seinen fast 3 Metern Spannweite - dann nicht entdecken…


Ich möchte mich bei Arne Hegemann, Felix Jachmann und Christoph Völlm für ihre freundliche Unterstützung und bei meinem Kollegen Frank Püchel-Wieling für die Durchsicht des Manuskripts bedanken.


Literatur:
Müller S. (2004): Bemerkenswerte avifaunistische Beobachtungen aus Mecklenburg-Vorpommern – Jahresbericht für 2001. Orn. Rundbrief Meckl.-Vorp. 45, S. 62-102.


Anschrift des Verfassers:
Bernhard Walter, Biologische Station GT/BI, Niederheide 63, 33659 Bielefeld