VdM 12/2010
Die Trottellumme von der ersten Bank
Von Darius Stiels
Mitte Dezember 1995 (das genaue Datum lässt sich leider nicht mehr rekonstruieren) bekam ich abends einen Anruf von meinem damaligen Biologielehrer Werner Mermagen. Auch wenn Anrufe von Lehrern erst einmal leichte Panik bei Schülern hervorrufen, konnte ich mich nicht daran erinnern, in jüngster Zeit etwas allzu Schlimmes verbrochen zu haben. Darüber hinaus kannte ich ihn auch außerhalb des Unterrichts, war er doch damals beim Verein für Umwelt und Naturschutz Niederkrüchten sehr aktiv, während ich beim NABU Mönchengladbach engagiert war. Er hatte einige Arten- und Naturschutzprojekte an unserer Schule, der Bischöflichen Marienschule Mönchengladbach, initiiert und war für mich während der Schulzeit ein Mentor, der meine Begeisterung für die Biologie stark gefördert hat.
Ich erfuhr am Telefon, dass Thomas Jentgens, ein anderer Lehrer unserer Schule, auf seinem Heimweg auf einem Feld bei Erkelenz (Kreis Heinsberg) einen ermatteten Vogel von einem Feld aufgesammelt hatte und soeben bei meinem Biologielehrer angerufen hatte. Die Beschreibung des Finders stimmte weitgehend, wie ich später feststellen konnte, ließ aber keine Artbestimmung zu – taubengroß, schwarz-weiß und mit gekrümmtem Schnabel. Unter den abenteuerlichen Spekulationen, was es alles hätte sein können, gefiel mir die Vorstellung eines Säbelschnäblers eigentlich ganz gut, doch der Schnabel sollte angeblich nach unten gebogen sein. Wir mussten also bis zum nächsten Vormittag warten, bis der Vogel in die Schule gebracht werden würde.
Ich saß am nächsten Vormittag im Erdkundeunterricht, als Werner Mermagen anklopfte und bat, mich kurz aus dem Unterricht zu nehmen, damit ich den gefundenen Vogel anschauen und seine Bestimmung bestätigen würde. In einer Kiste saß tatsächlich eine Trottellumme (Uria aalge)! Zwar hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nie einen Alk gesehen, aber eine Verwechslung war ausgeschlossen: Ein winziger Krabbentaucher (Alle alle) konnte es nicht sein, eine Gryllteiste (Cepphus grylle) wäre oberseits nicht so einfarbig dunkelbraun gewesen, von einem bunten Papageitaucherschnabel (Fratercula arctica) war keine Spur und auch der Schnabel eines Tordalks (Alca torda) wäre auffällig gewesen.
Abb. 1 bis 6: Die Trottellumme von Erkelenz. Foto: Michels.
Aber halt, es gibt ja auch noch Dickschnabellummen (Uria lomvia). Der Schnabel war nicht auffällig dick und eher spitz und der Oberschnabel an der Spitze leicht nach unten gebogen, das passte nicht, aber ohne Gefiedermerkmale wollte ich mich nicht zufrieden geben. Also radelte ich in der großen Pause schnell nach Hause und packte ein paar Bücher ein – der Jonsson (1992) war damals das Bestimmungsbuch, aber auch Tuck & Heinzel (1980) konnte nicht schaden. Vielleicht gibt es ja noch andere Lummenarten der Gattung Uria auf der Welt? – Damals reichte mein ornithologischer Horizont leider kaum über die Grenzen “Europas und des Mittelmeerraumes” hinaus. Und nein, in der Gattung Uria werden auch aktuell nur zwei Arten anerkannt, auch wenn Dickinson (2003) fünf Unterarten nennt. Die pazifischen Populationen gelten dabei als genetisch deutlich von den atlantischen differenziert (Friesen et al. 1996). – Jetzt schnell zurück den Bökelberg hinauf, aber auch heute kein Wellenläufer auf dem Schulweg (vgl. Hubatsch et al. 2007).
Nun mussten die Lumme und die Beobachtungsumstände natürlich noch entsprechend dokumentiert werden, hatte ich doch schon mal etwas von einer „Seltenheitenkommission“ gehört, an die ich die Angaben doch dann schicken wollte. Peter Michels, Latein- und Geschichtslehrer, hatte seine Spiegelreflexkamera geholt, also wurden einige Schnappschüsse gemacht. Leider machte ich die Aufzeichnungen auf einen losen Zettel, und anstatt direkt eine Meldung loszuschicken, blieb die Beobachtung erstmal in der berühmten Schreibtischschublade. Irgendwann kopierte ich wenigstens die Abzüge, aber einige Wohnungswechsel später waren die Aufzeichnungen nicht mehr zu finden, und die Beobachtung blieb gänzlich vergessen.
Ich erinnere mich dennoch gut, dass die Oberseite nicht gänzlich schwarz, sondern eher dunkelbraun war. In der Hand ist die Bestimmung natürlich einfach, der Vogel hatte weiße Wangen, während eine Dickschnabellumme auch im Winterkleid einen dunklen hinteren Gesichtsbereich hat, auf dem Unterflügel ist ein dunkler Keil im Achselbereich auffällig – Dickschnabellummen wären dort weiß.
Die Trottellumme war ermattet, Fisch war auch nicht wirklich in Reichweite, und professionelle Hilfe konnte keiner der Anwesenden bieten. Sie wurde also noch am selben Mittag eingepackt und in eine Aufzuchtstation oder eine ähnliche Institution irgendwo im Ruhrgebiet gebracht. Über das weitere Schicksal ist mir leider nichts bekannt, war ich doch nur kurz in diese Unterbrechung vom Schulalltag integriert. Den Rest des Vormittages musste ich meinen Mitschülern erklären, was der Anlass der Aufregung war und was denn eigentlich eine Trottellumme sei.
Trottellummen sind Wintergäste an den südlichen Küsten von Nord- und Ostsee. Die nächstgelegene Winterpopulation vor der niederländischen Küste besteht hauptsächlich aus Brutvögeln Schottlands (Bijlsma et al. 2001). Die bräunliche Färbung des hier behandelten Vogels deutet ebenfalls auf eine westeuropäische Herkunft (Unterart albionis) hin, da nordeuropäische Trottellummen (Unterarten aalge und hyperborea) eine fast schwarze Oberseitenfärbung haben (van Duivendijk 2010, Svensson et al. 2009), doch bleibt die tatsächliche Herkunft des Vogels unbekannt.
Nachweise von Trottellummen aus dem mitteleuropäischen Binnenland beruhen meistens auf Verdriftungen durch Stürme, so dass es nur wenige Nachweise abseits der Küsten gibt (vgl. Bauer et al. 2005 und Literatur darin). Aus dem niedersächsischen Binnenland gibt es vier Nachweise, drei aus Thüringen, jeweils zwei aus Brandenburg und Bayern sowie jeweils einen aus Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Hessen, dort allerdings vor langer Zeit: Am 13. Januar 1804 soll B. Meyer eine Lumme auf dem Main bei Offenbach „angetroffen“ haben.
Aus der Nordrhein-Westfalen benachbarten küstenlosen niederländischen Provinz Limburg waren bis 2006 insgesamt nur vier Nachweise der Meeresvögel mit dem schönen niederländischen Namen Zeekoet bekannt (Hustings et al. 2006 und Literatur darin):
– Im November 1901 wurde auf dem Markt in Maastricht eine tote Trottellumme entdeckt, die vielleicht an der Maas gefunden worden war.
– 1947 wurde bei Sittard eine Lumme lebend gegriffen, die dann kurz darauf starb. Der Balg wird im Natuurhistorisch Museum Maastricht aufbewahrt.
– Am 7. November 1961 kollidierte eine nach einer Sturmnacht bei Venlo mit einem Auto.
– Am 30. November 1985 wurde eine bei Oost-Maarland gefilmt.
In den Avifaunen von Mildenberger (1982) und Peitzmeier (1979) sind keine Trottellummen aus Nordrhein-Westfalen aufgeführt. Der erste Nachweis ist eine Lumme, die am 12. Februar 1994 an einem Baggersee am Stadtrand von Jülich (Kreis Düren) völlig entkräftet von einem Angler gegriffen und als „Sturmtaucher“ zum Jülicher Zoo gebracht. wurde. Von der Verwaltung wurde dann sofort Heribert Schwarthoff informiert, der weithin bekannte Jülicher Ornithologe. Er hat am nächsten Tag die Trottellumme gesehen, fotografiert, vermessen und vor allem auch eine Dickschnabellumme ausgeschlossen. „Der Vogel fühlte sich in der Hand extrem abgemagert an, das Gefieder war aber in bestem Zustand, keine Ölflecken, keine Afterverschmutzung. Er war völlig entkräftet, musste aber nicht gestopft werden, fraß spontan die angebotenen Fische, ging dennoch nach zwei Tagen ein“, schrieb Schwarthoff. Das Lebendgewicht betrug nur 458 Gramm.
Abb. 7: Die Trottellumme von Jülich 13.2.1994. Foto: Heribert Schwarthoff.
Die Trottellumme von Erkelenz ist also der zweite Nachweis für Nordrhein-Westfalen.
Dankeschön
Eckhard Möller half bei der Suche nach weiteren Nachweisen und ergänzte das Manuskript. Kathrin Schidelko danke ich für die kritische Durchsicht des Textes. Jan Heckmann fand die alte Angabe aus Hessen, Klaus Hubatsch und Stefani Pleines recherchierten niederländische Quellen. Allen an der Trottellumme beteiligten Lehrerinnen und Lehrern der Bischöflichen Marienschule Mönchengladbach gilt mein besonderer Dank.
Literatur
Bauer, H.-G., E. Bezzel & W. Fiedler (Hrsg.) (2005): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas. 2. Auflage. Wiebelsheim.
Bijlsma, R. G., F. Hustings & C. J. Camphuysen (2001): Algemene en schaarse vogels van Nederland (Avifauna van Nederland 2). Haarlem/Utrecht.
Dickinson, E. C. (Hrsg.) (2003): The Howard & Moore complete checklist of the birds of the world. 3rd edition. Princeton, New Jersey.
van Duivendijk, N. (2010): Advanced bird ID guide. London, Cape Town, Sydney, Auckland.
Friesen, V. L., W. A. Montevecchi, A. J. Baker, R. T. Barrett & R. S. Davidson (1996): Population differentiation and evolution in the common guillemot Uria aalge. Molecular Ecology 5: 793-805.
Hubatsch, K., E. Möller & H. Weindorf (2007): Sie kommen vom Atlantik: Wellenläufer. Vogel des Monats Januar 2007. http://www.nwo-avi.com/monatsvogel/Jan07.html, letzter Zugriff 23.11.2010.
Hustings, E., J. van der Coelen, B. van Noorden, R. Schols & P. Voskamp (2006): Avifauna van Limburg. Maastricht.
Jonsson, L. (1992): Die Vögel Europas und des Mittelmeerraumes. Stuttgart.
Mildenberger, H. (1982): Die Vögel des Rheinlandes. Band 1. Greven.
Peitzmeier, J. (1979): Avifauna von Westfalen. 2. Auflage. Abhandlungen aus dem Landesmuseum für Naturkunde zu Münster in Westfalen 41/3-4: 1-576.
Svensson, L., K. Mullarney & D. Zetterström (2009): Collins bird guide. The most complete guide to the birds of Britain and Europe. 2nd edition. London
Tuck, G. & H. Heinzel (1980): Die Meeresvögel der Welt. Hamburg, Berlin.
Darius Stiels
Zoologisches Forschungsmuseum Alexander Koenig
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