AviKom der NWO Rotating Header Image

VdM 02/2018

Die Strandpieper von Fröndenberg

Von Eckhard Möller

Sie nannten es „sammeln“. Immer wenn Ornithologen (oder solche, die sich dafür hielten) Vögel getötet haben, um sie zu präparieren oder präparieren zu lassen, verwendeten sie diesen beschönigenden Ausdruck, so als ob sie Bierdeckel, Briefmarken oder Münzen meinten. Aus den abgezogenen Häuten und einigen Körperteilen der Tiere wurden dann entweder möglichst lebensechte Standpräparate, die für Ausstellungszwecke geeignet waren, oder sogenannte Bälge gefertigt, die platzsparend in Schubladen und Schränken untergebracht werden konnten.

Derartiges „Sammeln“ hat eine lange Tradition. Alle Naturkundemuseen der Welt haben davon profitiert. Manche haben früher professionelle „Sammler“ in entlegene Teile der Welt auf monate- und jahrelange Expeditionen geschickt mit dem Auftrag, möglichst viele möglichst bis dahin noch nicht bekannte Arten zu finden, zu töten, ihre Häute zu konservieren und mitzubringen. Je seltener, desto besser für das internationale Ansehen.

Das eindrucksvollste Buch, das Leben und Tätigkeiten vieler dieser „Vogelsammler“ schildert, ist bereits vor 20 Jahren veröffentlicht, aber leider nie ins Deutsche übersetzt worden: „The Bird Collectors“ von Barbara & Richard Mearns.

Darin ist auch die bedrückende Schilderung zu lesen, die der amerikanische Ornithologe Elliott Coues (1842-1899) 1890 geschrieben hat, wie man am sinnvollsten einen im Netz gefangenen Kleinvogel tötet, ohne das Gefieder zu beschädigen:

„Dein Ziel ist es, sie so schnell und schmerzlos zu töten, ohne das Gefieder zu beschädigen. Dies kann man bei allen kleinen Vögeln durch Ersticken erreichen. Die Atmung und der Kreislauf von Vögeln sind sehr aktiv, und die meisten sterben in ein paar Momenten, wenn die Lungen so zusammengepresst sind, dass sie nicht atmen können. Drücke den Vogel fest über die Brust, unter den Flügeln, Daumen auf der einen Seite, Mittelfinger auf der anderen, Zeigefinger in die Mulde am Nackenansatz gepresst… Das System entspannt sich mit einem schmerzhaften Zittern, Licht schwindet aus den Augen, und die Lider schließen sich. Ich versichere dir, bei den ersten Malen wird es dich zum Schluchzen bringen; du hättest die arme Kreatur besser hinter deinem Rücken gehalten. Dann könntest du am Gefühl des Körpers in deiner Hand und seiner Bewegungslosigkeit merken, wenn er tot ist, ohne den traurigen Kampf ansehen zu müssen“ (S. 53/54, Übersetzung EM).

Seit es Gewehre gibt, wurden damit auch Vögel geschossen. Das Problem für die „Sammler“ bestand darin, das Objekt der Begierde nicht mit einer Ladung Schrot in blutiges Hackfleisch zu verwandeln, das nicht mehr präpariert werden konnte und damit wertlos war. Mit der rapiden technischen Entwicklung der Gewehre im 19. Jahrhundert wurde es für die Vogel-„Sammler“ bedeutend leichter, die begehrte Beute zu töten. Dabei sollte das Gefieder möglichst wenig beschädigt werden, und die Schrote sollten möglichst auch nicht in die Haut eindringen, wo sie unerwünschte Blutungen hervorrufen konnten.

Das war nur möglich – natürlich abhängig von der Größe des Vogels – mit immer feineren Schroten. So haben die Jäger damals viel experimentiert, zum Beispiel mit „Senfsaat“ oder „Staubschrot“. Es waren Hunderte von feinen Bleipartikeln, die auf die in der Regel äußerst geringe Schussdistanz das Gefieder der Beute möglichst intakt lassen sollten. Es gab auch Versuche mit Sandkörnern. In Südamerika wurden auch kleine Mengen von Quecksilber verwendet, um damit Kolibris zu schießen (Mearns & Mearns 1998).

Natürlich würden wir heute vieles über das Vorkommen seltener Arten in früheren Zeiten nicht wissen, wenn die Ornithologen damals die Vögel nicht geschossen hätten. Sie waren halt Kinder ihrer Zeit.

In Mitteleuropa ist das Töten von Vögeln für vermeintliche Zwecke der Wissenschaft erst deutlich nach der Mitte des 20. Jahrhunderts zum Erliegen gekommen. Es war zu der Zeit offenbar nie oder kaum Thema von Diskussionen der ornithologischen Öffentlichkeit. Späte Spuren finden sich heute unter anderem in Schriften aus den Bereichen der Vogelwarten Hiddensee und Helgoland.

Auf Hiddensee zum Beispiel wurde am 17. Oktober 1974 ein Goldhähnchen-Laubsänger (Phylloscopus proregulus) gefangen „und der Balgsammlung zugeführt“. Neun Tage vorher war dort ein Gelbbrauen-Laubsänger (Ph. inornatus) in Netz gegangen – er wurde „gesammelt“. Am 27.10.1962 konnte ein Bindenkreuzschnabel (Loxia leucoptera) gefangen werden; er wurde „später in die Balgsammlung der Vogelwarte … aufgenommen“ (Dierschke & Helbig 2008).

Auf Helgoland war es unter anderem eine weibliche Orpheusgrasmücke (Sylvia hortensis), die am 1.9.1964 im Fanggarten „gesammelt“ wurde. Eine männliche Brillengrasmücke (S. conspicillata) musste am 10.9.1965 im Fanggarten ihr Leben lassen und wurde „der Balgsammlung des IfV zugeführt“ (Institut für Vogelforschung). Auch die erste Samtkopf-Grasmücke (S. melanocephala) konnte am 18.6.1969 Helgoland nicht wieder verlassen und wurde „gesammelt“ (Dierschke et al. 2011).

Auch in Nordrhein-Westfalen war es bis zu der Zeit nicht völlig ungewöhnlich, Vögel zu töten, um ihre Bälge in einem Museum aufzubewahren – von privaten Sammlungen einmal ganz abgesehen. Und das, obwohl es bereits hervorragend entwickelte Fotografie-Techniken gab.

Die vier letzten Fälle, auf die wir bei den Recherchen zu seltenen Arten in Nordrhein-Westfalen gestoßen sind, sollen hier im Folgenden aufgeführt werden.

Bienenfresser Es war am 6. Mai 1964, als sich bei Oberaden (Kreis Unna) insgesamt neun Bienenfresser (Merops apiaster) in den Randbäumen eines Wäldchens aufhielten. Sie wurden dort von einem Lehrer namens Wendt entdeckt, der dann sofort den Ornithologen Wilfried Stichmann informierte. Die Vögel verhielten sich wenig scheu, so dass Stichmann einen von ihnen „als Belegexemplar für das Landesmuseum für Naturkunde in Münster“ schießen konnte. Es war ein „sehr farbenprächtiges Männchen“, das 3 Wespen und 7 Hummeln im Magen hatte (Stichmann 1964) (Abb. 1).

Abb. 1 Der Bienenfresser von Oberaden. Foto: Christoph Steinweg/LWL-Museum für Naturkunde 2017

Sumpfläufer Am 16. August 1964 entdeckte der lokale Ornithologe Georg Möbius in den Rietberger Fischteichen (Kreis Gütersloh) einen Sumpfläufer (Limicola falcinellus). Es war der erste in Westfalen – entsprechend begeistert und aufgeregt wird Möbius gewesen sein. In einer kurzen Notiz in den „Ornithologischen Mitteilungen“ meldete er später die außergewöhnliche Beobachtung und endete mit dem knappen Schlusssatz: „Das Belegexemplar befindet sich im Mus. Nat. Münster“ (Möbius 1965a: 88). Ganz ähnlich formulierte er auch in seiner umfangreichen Arbeit über die Vogelwelt der Rietberger Teiche (Möbius 1965b). Am dritten Tag hatte Möbius den seltenen Gast geschossen. Vielleicht war er vorher nicht nahe genug herangekommen. In der westfälischen Avifauna schreibt später Berger (in Peitzmeier 1969: 276): „Dieser Vogel wurde am 18.8.1964 erlegt“ (Abb. 2).

Abb. 2 Der Sumpfläufer von Rietberg. Foto: Berenika Oblonczyk/LWL-Museum für Naturkunde 2013

Rötelschwalbe Am 8. Mai 1965 beobachtete der junge Bernhard Koch über dem Wassergewinnungsgelände an der Ruhr östlich von Echthausen (Kreis Soest) unter zahlreichen Schwalben eine Rötelschwalbe (Cecropis daurica), die er aber wohl erst am Folgetag sicher identifizieren konnte. Er benachrichtigte den lokalen Ornithologen Werner Prünte, der am 10. Mai mit Hilfe eines immer wieder hochgeschleuderten Japannetzes versuchte, den seltenen Gast zu fangen, aber ohne Erfolg. Am Vormittag des 11. Mai gelang es dem dortigen Jagdaufseher Alfons Koch, auf Anregung von Prünte die Rötelschwalbe mit Schrot zu schießen (Mester & Prünte 1965). Es war ein Weibchen, dessen Balg bis heute im LWL-Museum für Naturkunde aufbewahrt wird. In der „Avifauna von Westfalen“ (Peitzmeier 1969: 330) schrieben Mester & Prünte dann später: „Am 10.5.1965 wurde ein Weibchen von A. Koch in Echthausen … gesammelt“ (Abb. 3).

Abb. 3 Die Rötelschwalbe von Echthausen. Foto: Christoph Steinweg/LWL-Museum für Naturkunde 2017

Strandpieper Nach dem ersten sicheren Nachweis 1957 konnten Werner Prünte und  Horst Mester im mittleren Westfalen in geeigneten Habitaten bis 1965 insgesamt mehr als 230 Strandpieper  (Anthus petrosus) bei 78 Einzelnachweisen von September bis November und von Januar bis April zählen, davon im Oktober mit Abstand die meisten (Mester & Prünte 1966). Es gelang ihnen, sieben Individuen in Schlagnetzen mit Mehlwurmködern zu fangen. Die beiden Strandpieper vom 5. und 6. Oktober 1965 haben sie getötet. „Die Bälge der beiden letzten Stücke (eines ♂ und eines ♀) wurden als Belege im Museum Alexander Koenig deponiert“, schrieben sie dazu (S. 39) (Abb. 4, 5).

Abb. 4, 5 : Die Strandpieper von Fröndenberg. Fotos: Kathrin Schidelko/ Darius Stiels, ZFMK Bonn 2017

Interessant für die Ornithologie-Geschichte von Westfalen und gleichzeitig amüsant ist die Frage, warum Werner Prünte diese beiden „gesammelten“ Strandpieper nicht in das westfälische Naturkundemuseum in Münster, sondern in das rheinische Museum Alexander Koenig in Bonn gegeben hat. Wahrscheinlich gab es zu der Zeit erhebliche Differenzen zwischen den „jungen Wilden“ aus den Münsteraner Rieselfeldern und dem Ruhrtal einerseits und der etablierten Leitung des Landesmuseums in Person von Prof. Dr. Ludwig Franzisket andererseits.

Seit 1965 sind in Nordrhein-Westfalen nach unserem Wissen keine seltenen Vögel mehr geschossen oder erstickt worden, um sie als „Belegexemplare“ für eine Museumsammlung zu sichern. Totfunde und Scheibenanflüge sollten dort jedoch weiterhin abgegeben werden. Ansonsten gibt es heute Fotos, Filme, Tonaufnahmen und bei wissenschaftlichem Vogelfang Blut-, Speichel-, Feder- und Kotproben, um DNA-Material zu sichern. Den Vogel-Individuen bekommt das deutlich besser…

Danksagung:

Mein großer Dank geht an Falko Prünte für zahlreiche Auskünfte über Werner Prünte und über die Strandpieper, an Berenika Oblonczyk und Christoph Steinweg vom LWL-Museum für Naturkunde Münster für die ausgezeichneten Fotos und an Kathrin Schidelko und Darius Stiels, die im Museum Koenig in Bonn die Strandpieper aufgestöbert und vorzüglich fotografiert haben.

Literatur

Avifaunistische Kommission NRW (2017): Seltene Vögel in Nordrhein-Westfalen. Münster.

Coues, E. (1890): Handbook of Field and General Ornithology. A manual of the structure and classification of birds with instructions for collecting and preserving specimens. London.

Dierschke, J., V. Dierschke, K. Hüppop, O. Hüppop & K. F. Jachmann (2011): Die Vogelwelt der Insel Helgoland. Helgoland.

Dierschke, V. & A. J. Helbig (2008): Avifauna von Hiddensee. Meer und Museum 21: 67-202.

Mearns, B. & R. Mearns (1998): The Bird Collectors. San Diego.

Mester, H. (1958): Strandpieper (Anthus spinoletta) in Westfalen. Journal für Ornithologie 99: 104-105.

Mester, H. & W. Prünte (1965): Eine Rötelschwalbe (Hirundo daurica rufula) in Westfalen. Journal für Ornithologie 106: 460-461.

Mester & Prünte (1966): Wie häufig zieht der Felsenpieper tatsächlich durch das deutsche Binnenland? Anthus 3: 33-43.

Möbius, G. (1965a): Sumpfläufer (Limicola falcinellus) an den Rietberger Fischteichen. Ornithologische Mitteilungen 17: 88.

Möbius, G. (1965b): Die Vogelwelt der Rietberger Fischteiche. Berichte des Naturwissenschaftlichen Vereins Bielefeld 17: 146-221.

Peitzmeier, J. (1969): Avifauna von Westfalen. Münster.

Stichmann, W. (1964): Bienenfresser (Merops apiaster) in Westfalen. Journal für Ornithologie 105: 491-492.

Anschrift des Verfassers:

Eckhard Möller

Stiftskamp 57

32049 Herford