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VdM 11/2018

Der Buschrohrsänger von Theesen

Von Holger Bekel-Kastrup

Eigentlich ist es ja genau das, was man mit einem naturnahen Garten beabsichtigt: Man wacht morgens auf und hört eine Vielzahl an Vögeln, die lautstark ihre Anwesenheit verkünden. Durch die Struktur unseres Gartens und die fast direkte Nachbarschaft mit dem Köckerwald in Bielefeld- Theesen sowie den Flächen des Biobetriebes Köckerhof ist die Artenvielfalt in unserem Garten immer wieder ein Quell der Freude. Da ist es dann auch nicht verwunderlich, dass pro Jahr um die 100 Arten vom Garten aus zu sehen und zu hören sind. Die Gartenliste ist die einzige Liste, die ich als Familienvater „ernsthaft“ betreiben kann, und so wird jede neue Art fleißig registriert.
Es war der 22. Juni 2017 am frühen Morgen, wo das herrliche Vogelkonzert doch eher störte. Ich öffnete das Fenster und hörte vor allem die direkt neben mir in der Eibe singenden Grünfinken, eine Heckenbraunelle und einen Zaunkönig. Doch da war noch etwas anderes. Im östlichen Heckenstreifen oder schon im Nachbargarten hörte ich verschiedene Geräusche, die von einem Vogel auszugehen schienen. Ein Ruf erinnerte mich an den Kontaktruf eines Nymphensittichs, dann wieder eher an den eines Teichrohrsängers und aufgrund der Wiederholung einzelner Motive an den einer übenden Singdrossel. Leider alles stark überlagert von den viel näher singenden Arten. Die genannten drei hatte ich bereits auf meiner jahresübergreifenden Gartenliste stehen und so kleidete ich die Kinder an und ging dem Gesang nicht weiter nach – beinahe ein Fehler, wie sich später erst herausstellte.
Wie üblich, machte ich mich in meiner Elternzeit um etwa 10.30 Uhr auf zu einer Runde mit dem Kinderwagen mit meinem jüngsten Sohn. Kaum um die Ecke muss er wohl als erster die Besonderheit gehört haben, denn er fing – ganz untypisch für ihn – sehr laut an zu weinen und ließ sich kaum beruhigen. Zum Glück! Ich nahm ihn aus dem Wagen und zum ersten Mal in meinem Leben setzte ich mich direkt an der Ecke der Jöllenbecker Straße, der einzigen größeren Straße, welche durch Bielefeld-Theesen führt, mit ihm auf eine Bank. Hinter der Bank erstreckt sich ein etwas größerer Grünstreifen mit dicht bewachsenen Büschen und einzelnen Bäumen. Es dominieren Rhododendron und Eichen. Aus diesem dichten Gebüsch fing plötzlich der Sänger, den ich morgens nur bruchstückhaft vom Schlafzimmerfenster aus gehört hatte, laut zu singen an.
Mir war sofort klar, dass es etwas war, was ich noch nicht kannte. Da mir die lokalen Vogelstimmen sehr vertraut sind, konnte es doch nur etwas Besonderes sein. Zuerst fielen mir die vielen spottenden Elemente auf, welche immer wieder in unterschiedlicher Reihenfolge mehrfach wiederholt wurden, unter anderem auch der Nymphensittich-ähnliche Ruf. Daher dachte ich zuerst an einen Sumpfrohrsänger. Aber dieser Vogel hier sang die spottenden Elemente irgendwie klarer, die Geschwindigkeit war langsamer und Elemente, welche an das „Tret-Tret“ des Teichrohrsängers erinnern, wurden immer wieder eingestreut. Wenn es kein Sumpfrohrsänger ist, dann könnte es ja vielleicht ein Gelbspötter sein, der leider in Bielefeld fast nur noch zur Zugzeit auftritt. Doch auch hier passte die Art des Gesangs nicht.
Was nun? Mein Sohn war immer noch nicht zu beruhigen und somit blieb mir nur eine schnelle WhatsApp-Nachricht in die regionale sturmmöwe-Gruppe. In dieser Gruppe, welche ein nützlicher Ableger der gleichnamigen Internetseite ist, tauschen sich interessierte Vogelbeobachter aus der näheren und auch weiteren Umgebung über besondere Meldungen der Region aus. Unter anderem sind hier sehr erfahrene und kompetente Ornithologen organisiert, die auch in den Seltenheitskommissionen der DAK und der AviKom NRW Meldungen von seltenen Vögeln bearbeiten. In der Hoffnung, dass einer der Experten Zeit hat und vorbeikommen könnte, postete ich die Nachricht über einen mir völlig unbekannten Gesang mit spottenden Elementen in Bielefeld-Theesen.
Prompt kam die Reaktion von Eckhard Möller, der seinerseits fragte, ob es ein Orpheusspötter sein könnte. Da ich diese Art nicht gut kannte, blieb mir nur die Nachfrage, ob er vorbeikommen könne.
Kurze Zeit später war mein Sohn (endlich) im Kinderwagen eingeschlafen, so dass es mir möglich war, mich nun voll und ganz auf den Vogel zu konzentrieren. Als ich mich von der anderen Seite des Gebüsches näherte, sang der Vogel nur etwa 2 Meter von mir entfernt, ich konnte ihn aber nicht sehen. Der Gesang war einfach beeindruckend. Und je länger ich zuhörte, umso sicherer konnte ich alle mir bekannten Arten ausschließen. Aber wie sollte ich das dokumentieren? Da der Vogel so nah war, kam mir die Idee, die Sprachmemo-Funktion des Handys für die Aufnahme der Vogelstimme zu verwenden. Ich hatte das Glück, dass die Verkehrsgeräusche an der Theesener Ampelkreuzung eine Pause einlegten. Daher gelang mir eine halbwegs geeignete Audioaufnahme, die später wohl auch der entscheidende Beleg für den Vogel werden sollte.
Diese Aufnahme postete ich ebenfalls in die Gruppe. Und ab jetzt spürte man förmlich, wie meine Aufregung auf einige Teilnehmer der Gruppe übersprang. Eckhard Möller postete, dass für eine Orpheusgrasmücke das Tempo fehle und er später nachmittags vorbeikommen könne.
In diesem Moment erschien bereits der erste sehr erfahrene Beobachter Dirk Wegener (Bielefeld). Dirk gilt nicht nur als ausgezeichneter Kenner der heimischen Vogelstimmen, sondern kennt sich ebenfalls in weiten Teilen Europas durch seine von ihm organisierten Vogelreisen gut aus. Auch für ihn klang der Vogel erst einmal unbekannt, aber Orpheusspötter, Blassspötter und weitere west- und südeuropäische Arten von Spöttern und Rohrsängern konnte er ausschließen. Dann stellte Meinolf Ottensmann (Bielefeld) im Chat die Frage: „Was ist mit Buschrohrsänger? Tempo passt, finde ich.“ Jetzt war endgültig die Unruhe aller zu der Zeit in der WhatsApp-Gruppe folgenden Zuhörer zu spüren.
Eckhard reagierte umgehend: „Klingt verdammt gut für Buschrohrsänger!!“
Dirk und ich verglichen das gerade Gehörte mit der Aufnahme der Stimme des Buschrohrsängers (Acrocephalus dumetorum) auf seinem Handy, und wir konnten erstmals Ähnlichkeiten erkennen, welche wir posteten. Ab jetzt gingen die Mitteilungen hin und her, und alle Mitlesenden teilten die Meinung, dass es sich um einen Buschrohrsänger handeln müsste. Eckhard Möller erschien bereits noch am Vormittag und teilte, nachdem er den Vogel gut hören konnte, euphorisch mit, dass es sich wohl um den ersten Buschrohrsänger handelt, der jemals in ganz Nordrhein-Westfalen registriert wurde.
Im gesamten Tagesverlauf kamen dann noch einige angereiste Beobachter in den Genuss, den Vogel zu hören. Natürlich war jetzt die große Herausforderung, ihn auch fotografisch zu dokumentieren. Leider gelangen nur Eckhard Möller, Uwe Schneider (Melle) und mir kurze Sichtbeobachtungen, obwohl der Vogel zum Teil nur 2-3 Meter entfernt war. Fotos gelangen nicht. Die Sichtbeobachtungen festigten aber noch einmal die Vermutung, da der Vogel als rohrsängerartig braun ohne jedes Gelb wahrgenommen wurde. Im Geäst rumhüpfend wirkten die Handschwingen sehr kurz. Beides Merkmale, die für einen Buschrohrsänger sprechen.
Alle konnten es kaum glauben, dass der erste Buschrohrsänger an solch einer Stelle mitten im Wohngebiet an der einzigen viel befahrenen Straße entdeckt wurde. Als sich alle gemeinsam über die Beobachtung freuten, flog dann noch eine dunkle „Möwe“ über die Beteiligten. Der Vogel hatte einen weißen Bauch und dunkle Flügel und spitze Schwanzspieße und stellte sich bei genauerem Hinsehen als Schmarotzerraubmöwe heraus, welche fast zeitgleich von Eckhard Möller und Klaus Nottmeyer (Herford) als K2, helle Morphe, identifiziert wurde.
Was für ein Tag! Am frühen Abend waren sich dann alle einig und stießen bereits auf den Buschrohrsänger mit dem Bier an, welches meine Tochter und mein Sohn mit ihren Kindertreckern freundlicherweise transportiert hatten.
Später teilte mir dann Eckhard noch mit, dass wir auf der Parkfläche der Theesener Feuerwehr auf einer weiteren Rarität standen. Er hatte in den Ritzen des Verbundsteinpflasters vor dem Feuerwehrhaus graugrüne Pflanzen entdeckt. Es handelte sich um Gelbweißes Schein-Ruhrkraut (Pseudognaphalium luteoalbum), welches in der Roten Liste für das Weserbergland als verschollen gilt!
Die Nachsuche am folgenden Tag bereits ab 4 Uhr morgens blieb leider erfolglos. So hatte sich der erste Buschrohrsänger Nordrhein-Westfalens wohl auf die Suche nach einem Weibchen weiter auf den Weg gemacht.
Um alle Restzweifel auszuräumen, schickte ich meine Aufnahmen an den Vogelstimmenexperten Prof. Dr. Hans-Heiner Bergmann, der auch 2014 eine Arbeit zu dem vermehrten Einflug von Buschrohrsängern veröffentlicht hatte. Er bestätigte unseren Verdacht und vermutete ein spätes unverpaartes Männchen. Sein Kommentar zu der Audiodatei: „Für einen Buschrohrsänger spricht das maßvolle Tempo, auch der Wechsel zwischen phrasierten Kurzelementen und tonalen Elementen und einige Imitationen. Der Gesang ist aber kein Vollgesang, sondern teilweise subsongartig, eher ein wenig schwätzend und nicht so stark wiederholend wie ein voller Buschrohrsänger-Gesang.“
Die für den Buschrohrsänger typischen Wiederholungen, die teilweise ineinander übergehen, hörten die anwesenden Ornithologen immer wieder. Die anfangs aufgenommene Audiodatei (https://club300.de/sounds/buschrohrsaenger_62227.mp3) enthält recht deutlich die beiden anderen typischen Merkmale, das eingeflochtene „Tret-tret“ und die sogenannten Tonleiterübungen. Beides findet sich auf dem Sonogramm-Auschnitt in der Abb.1. Weitere Audiodateien wurden zuerst von Frank Schulz (Düsseldorf) ein wenig optimiert (Dank an dieser Stelle) und der Meldung bei ornitho angehängt (https://www.ornitho.de/index.php?m_id=54&id=26922923).


Abbildung 1: Sonogramm aus dem Gesang des Buschrohrsängers am 22.6.2017 in Bielefeld-Theesen. Zwischen der 32 und der 34 s erkennt man die Tonleiterübung aus erst aufsteigenden und dann absteigenden Flötentönen. Vorher und nachher zeigt sich der eingeschobene Lockruf, das „tret-tret-tret“(vgl. Bergmann 2014).

Alle Audiodateien und Beobachtungseindrücke wurden zusammen mit der Einschätzung von Prof. Dr. Bergmann bei der Avifaunistischen Kommission NRW eingereicht. Der Vogel wurde zuerst von der AviKom und Mitte September 2018 auch von der Deutschen Avifaunischen Kommission (DAK) anerkannt. Es ist der erste Buschrohrsänger, der jemals in Nordrhein-Westfalen festgestellt und dokumentiert wurde.
Buschrohrsänger sind im östlichen Teil Europas und in Sibirien beheimatet. Das Verbreitungsgebiet erstreckt sich von den baltischen Staaten bis zum sibirischen Baikal. Sie ziehen im Spätsommer in ihre Winterquartiere in Indien und Sri Lanka.
Zugprolongation, also dass einige Vögel beim Heimzug über ihr Ziel hinausfliegen und in Mitteleuropa entdeckt werden können, findet selten statt. Ebenfalls nur ausnahmsweise ist das genetische Programm gestört, welches die Zugrichtung bestimmt, so dass einzelne Individuen auf dem Wegzug in die falsche Richtung fliegen und dann zum Beispiel auf Helgoland gesichtet werden (vgl. Seltene Vögel in Nordrhein-Westfalen, AviKom 2017). Bis zum Jahre 2012 wurden Buschrohrsänger insgesamt 24 Mal in Deutschland beobachtet. Im Jahre 2014 gab es einen starken Einflug, es wurden in dem Jahr über 30 Buschrohrsänger gemeldet. Es gab den Verdacht, dass es sich um Anzeichen einer Westausbreitung der Art handeln könne. Allerdings nahmen die Beobachtungszahlen in den anschließenden Jahren wieder deutlich ab. 2017 war der Theesener Buschrohrsänger deutschlandweit der einzige Sänger im Frühjahr, im Herbst wurden lediglich zwei Vögel dokumentiert.

Danksagung
An erster Stelle möchte ich mich bei Prof. Bergmann für seine schnelle Antwort auf meine Anfrage bedanken.
Eckhard Möller und Christopher König möchte ich an dieser Stelle für ihre immer sehr schnelle und kompetente Expertenmeinung und Beratung sowohl bei dieser als auch bei anderen Beobachtungen danken.

Literatur
Avifaunistische Kommission Nordrhein-Westfalen (2017): Seltene Vögel in Nordrhein-Westfalen. Münster.
Bergmann, H.-H. (2014): Einflug eines östlichen Singvogels: Begegnung mit dem Buschrohrsänger. Der Falke 9/2014: 29.
Bergmann, H.-H., H.-W. Helb & S. Baumann (2008): Die Stimmen der Vögel Europas. Wiebelsheim.
Svensson, L., K. Mullarney & D. Zetterström (2011): Der Kosmos Vogelführer. Stuttgart.

Anschrift des Verfassers:
Dr. Holger Bekel-Kastrup
Kahler Krug 11
33739 Bielefeld-Theesen