VdM 05/2018
Der Bindenstrandläufer von Münster
von Paul Mann
Das mit dem ersten Bindenstrandläufer (Micropalama himantopus) Deutschlands ist nicht so einfach erzählt. Man muss die besonderen zeitgeschichtlichen Umstände verstehen, warum um das, was heute als extrem aufsehenerregend erscheinen mag, seinerzeit nicht viel Aufhebens gemacht worden ist…
Also, heute kann man sich gar nicht mehr so richtig vorstellen, wie das damals Anfang der 80er Jahre so war. Es war wirklich eine andere Welt – zumal in den Rieselfeldern in Münster. An vieles von dem, was uns heute selbstverständlich ist, war zu jener Zeit nicht mal andeutungsweise zu denken. Gegenüber heute waren zum Beispiel die Teleskope unhandlich, randunscharf, meist zoomfrei und die Farbtreue hielt sich auch in Grenzen.
1980 in den Rieselfeldern. Da war es erst wenige Jahre zuvor gelungen, zumindest einen Teil des Gebietes (233 der über 640 ha) vorläufig durch einen Pachtvertrag zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen und der Stadt Münster als Feuchtgebiet zu erhalten. Die Gefährdung durch Bauprojekte seitens der Kommune blieb jedoch stets gegenwärtig (Biologische Station Rieselfelder Münster 1981). Außerdem konnte man sich nicht damit abfinden, dass das wertvollste Herzstück des Gebietes bereits weitgehend trockengelegt war und seinen typischen Charakter verloren hatte.
Wir, die Mitarbeiter der Biologischen Station, zählten die Wasservögel im Gebiet täglich, um nichts Wesentliches zu verpassen. Ich war damals aber noch Schüler und lief so mit. Wir wollten dieses Paradies bewahren und dafür brauchten wir harte wissenschaftliche Fakten. Die Vogelberingung, die Brutbestandserhebung, die Rastbestandserfassung, dazu limnologische Studien, aber natürlich auch das praktische Habitatmanagement waren die Säulen, die langsam auch Früchte trugen.
Es kam 1978 zur Auszeichnung als Europareservat, später dann zur Anerkennung als Feuchtgebiet internationaler Bedeutung gemäß Ramsar-Konvention (1983), zur Ausweisung als Naturschutzgebiet (1998) und später auch als NATURA2000-Schutzgebiet.
Wir erhielten Ringwiederfunde aus einem beeindruckend riesigen Areal zwischen der Sahelzone und Ostsibirien. Große Zahlen von Limikolen und Schwimmenten versammelten sich alljährlich zur Großgefiedermauser hier und für Rotschenkel, Löffelente, Blaukehlchen u.v.a. waren die Rieselfelder ein national bedeutender Brutplatz. Stück für Stück wurde der Status damit gefestigt und weniger umkehrbar.
Ich erzähle das, weil es unseren Fokus beschreibt. Es ging um Zahlen, es ging um Relevanz. Da war vieles, das durchs Raster fiel. So war es auch mit den Seltenheiten. Die wurden zwar gewissenhaft bestimmt, aber ihnen wurde keine besondere Bedeutung beigemessen, außer vielleicht die Artenliste zu verlängern, weil das letztendlich auch als Argument brauchbar war. In der Regel wurden zur Bestätigung einer Seltenheit zwar sofort weitere „Stations-Ornis“ herbeigerufen, man hielt es aber für unangebracht, viel Zeit darauf zu verwenden das Auftreten bedauernswerter verirrter Gestalten zu dokumentieren (OAG Münster 1994).
Also der Bindenstrandläufer, er weilte drei Tage, vom 11. bis 13. August 1980, in den Rieselfeldern. Dass es keine der vertrauten, gängigen Limkolenarten war, die da plötzlich auf der Parzelle 21/18 – wohl beim „Durchfahren“ (so nannten wir die tägliche Bestandserfassung damals im Jargon) – entdeckt wurde, war gleich auf den ersten Blick klar:
Bild 1: Erst kürzlich sind diese jahrelang verschollenen grobpixeligen Belegfotos wieder ausgegraben worden. Sie sind die `smoking gun´, die diesen Beitrag erst möglich machte. Denn Eckhard Möller war bereits seit über 10 Jahren hinter der Story her. Foto: Anonymus, OAG Münster
Bild 2: Die damaligen fotografischen Mittel waren beschränkt. Bedeutend ist allein, dass es diese Aufnahmen überhaupt gibt und dass sich immerhin erahnen lässt, um welchen Vogel es geht… Foto: Anonymus, OAG Münster
Der Vogel war von schlanker Gestalt, wirkte langhalsig und hochbeinig, hatte helle, gelbliche Beine, der prominente Schnabel war leicht abwärts gebogen, die Unterseite teilweise gebändert, das Gesicht erschien marmoriert und durch dunkle Kopfplatte und Zügel bei hellem Überaugenstreif kontrastreich gezeichnet. Er trug auf dem Rücken einige dunkle Prachtkleid-Federn und im direkten Vergleich zu den Sichelstrandläufern daneben erschien er etwas größer. Er erinnerte vom Habitus viel mehr an einen kleinen Wasserläufer als an einen Strandläufer.
Ich vermute, niemand der an diesen Tagen vor Ort anwesenden und herbeigerufenen Zeugen hatte so einen Vogel jemals zuvor gesehen. Wer der Entdecker war, liegt ebenso im Dunkeln wie, wer ihn dann als Bindenstrandläufer identifizierte. Aber aufgrund seiner Unverkennbarkeit war die Bestimmung mit geeigneter Literatur kein Hexenwerk.
Diese geraffte Beschreibung entstammt dem erst 1994 der Seltenheitskommission bzw. dem damaligen Bundesdeutschen Seltenheitenausschuss (BSA) vorgelegten, wahrscheinlich nachträglich verfassten dürren Anerkennungs-Protokoll. Meine eigene Erinnerung daran ist nach all den Jahren zu vage, um diese Einzelheiten – ganz im Gegensatz zu anderen phantastischen naturkundlichen Erlebnissen jener Zeit – noch guten Gewissens beschwören zu können.
Es handelte sich um ein aus dem Prachtkleid ins Schlichtkleid mausernden Altvogel. So steht es jedenfalls in den Exkursionslisten. Heute würde ich allerdings eine vorsichtig-kritische Einschränkung machen und ihn als „2cy+“ respektive „non-dj“ bezeichnen, um es ganz genau zu nehmen. Es könnte nämlich auch ein vorjähriger Vogel gewesen sein, welcher dann noch das juvenile Großgefieder getragen hätte und erst durch die erste Vollmauser im zweiten Kalenderjahr tatsächlich „adult“ geworden wäre. Dazu muss man sich das Gefieder wesentlich genauer anschauen, was im Felde allerdings oft schwierig bis unmöglich ist. Das haben wir aber damals nicht bedacht und es sei nur der Wahrhaftigkeit halber erwähnt.
Also: So war das früher.
Bleibt noch nachzutragen, dass der zweite Bindenstrandläufer Deutschlands am 20. Juli 2008 am Strandsee Hohenfelde in Schleswig-Holstein beobachtet wurde, abermals ein nicht-juveniler Vogel (DSK 2009). In Großbritannien übrigens gehört die Art mit unter 50 Nachweisen zu den unstetiger auftretenden Nordamerikanern (Hume et al. 2016).
Dank
Die Abzüge der Belegfotos wurden vor vielen Jahren vom Fotografen, der jedoch anonym blieb, der Deutschen Seltenheitenkommission überlassen. Peter H. Barthel stellte sie der AviKom freundlicherweise im letzten Jahr für ihre Publikationen zur Verfügung.
Literatur
Avifaunistische Kommission Nordrhein-Westfalen (2017): Seltene Vögel in Nordrhein-Westfalen. LWL-Museum für Naturkunde, Münster.
Biologische Station Rieselfelder Münster (1981): Die Rieselfelder Münster. Europareservat für Wat- und Wasservögel. Münster.
Deutsche Seltenheitenkommission (2009): Seltene Vogelarten in Deutschland von 2006 bis 2008. Limicola 23: 257-334.
Hume, R. et al. (2016): Britain’s Birds – An Identification Guide to the Birds of Britain and Ireland. Hampshire.
OAG Münster (1994): 15 Jahre “Birding” in den Rieselfeldern Münster – Neue Erkenntnisse für die Avifaunistik? Charadrius 30: 181–185.
Anschrift des Verfassers:
Paul Mann
Höhbergstr. 29
D-72074 Tübingen