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VDM 12/2009

Die Sichler von Holsen

Von Eckhard Möller

Am liebsten sind sie allein. Einsam und allein mit dem Objekt ihrer Begierde. Viele Tierfotografen sind nicht sehr kommunikativ, wenn es um ungewöhnliche oder gar seltene Aufnahmemöglichkeiten geht. Manche warten Stunde um Stunde in ihrem Tarnversteck, bis sie irgendwann auftauchen, die Motive – oder auch nicht. Kaum jemand unter den Kollegen erfährt davon, worum es eigentlich geht…

So auch im Spätsommer 1994. Ein Landwirt hatte an seinem Hof in Bünde-Holsen (Kreis Herford) am 14. September zwei ungewöhnliche dunkle Vögel mit langen Schnäbeln entdeckt, die er noch nie gesehen hatte. Er berichtete ‚Fitte’ Busch davon, der damals bei der Post beschäftigt war, deshalb viel auf dem Lande herumkam und in seiner Freizeit Tiere fotografierte.

Busch setzte sich am nächsten Tag in einem Gebäude des Hofes an und beobachtete die nahe Schweinesuhle. Irgendwann kamen die beiden Rätselvögel von einem unbekannten Schlafplatz angeflogen und landeten an der Suhle, bevor sie ins schlammige Wasser stakten. Sie waren mittelgroß, einfarbig dunkelbraun und hatten recht lange, schlanke und abwärts gebogene Schnäbel. Es war ihm sofort klar: Das waren Sichler. Sein Kameraverschluss klickte ohne Pause. Die Vögel stocherten und wühlten mit ihren Schnäbeln im weichen Untergrund der Suhle und machten offenbar des öfteren Beute.

Die Sichler (Plegadis falcinellus) blieben immerhin 4 Tage bis zum 17. September. Niemand von den heimischen Beobachtern erfuhr davon, als die Vögel anwesend waren. Erst als am 28. September im ‚Bünder Tageblatt’ ein Foto der Sichler veröffentlicht wurde, machte die Nachricht langsam die Runde. Da wurde klar, dass den Birdern eine aufregende Art vor der eigenen Haustür entgangen war, die damals offenbar seltener als heute in Nordrhein-Westfalen auftauchte. Es war selbstverständlich der erste Nachweis dieser südlichen Art für den Kreis Herford und auch für Ostwestfalen-Lippe.

holsen Die Sichler von Holsen. Foto (C): Fitte Busch im Bünder Tageblatt.

Im Spätsommer/Herbst 1994 fand offensichtlich ein größerer Einflug von Sichlern ins westliche Europa statt. Van den Berg (1994) und Smulders & Slingerland (1996) listen aus den Niederlanden eine ganze Reihe von Beobachtungen zwischen dem 10. September und 13. Dezember auf. Bis zu 9 Individuen erreichten auch Dänemark. Insgesamt gab es in den Niederlanden zwischen 1980 und 1995 25 Nachweise mit 48 Individuen (van den Berg & Bosman 1999).

Die beiden NRW-Avifaunen (Peitzmeier 1969, Mildenberger 1982) führen eine Reihe von Sichler-Daten auf:
– 1825 wurde einer bei Köln gefangen.
– 1836 wurde einer von zweien an der Rur in der Aachener Gegend geschossen.
– Am 16.10.1895 wurde ein junger Sichler bei Wadersloh im damaligen Landkreis Beckum getötet.
– Am 8.10.1911 wurde ebenfalls ein K1-Sichler in der Davert im Großraum Münster geschossen. Der Balg befindet sich noch heute in der Sammlung des LWL-Museums für Naturkunde in Münster (Jan Ole Kriegs mdl.).
– Im Oktober 1932 waren 4 an der Erft bei Grevenbroich (Kreis Neuss), einer davon wurde getötet.
– Am 15.10.1932 wurden sogar 4 von 25 Sichlern (für die Wissenschaft?) auf den Erftwiesen bei Bergheim (Rhein-Erft-Kreis) geschossen!
– Am 17.10.1932 ließ ganz in der Nähe ein weiterer sein Leben, nämlich bei Erftstadt-Kierdorf.
– Müller sah am 21.10.1932 bei einem Vogelpräparator in Scherlebeck bei Herten (Kreis Recklinghausen) 2 frisch präparierte junge Sichler, die ein oder zwei Tage vorher in Marl-Sinsen „aus einem Trupp von 4-5 Vögeln herausgeschossen worden waren“. Sie gelangten dann in das Vestische Museum in Recklinghausen, wo die Bälge später im Bombenkrieg verbrannt sind (Söding 1953, Mester & Prünte 1967). Dieser Nachweis ist nicht in der ‚Avifauna von Westfalen’ (Peitzmeier 1969) aufgeführt.
– Im Frühjahr 1946 sah Bettmann 3 über Mönchengladbach-Rheydt.
– Am 23.10.1946 flogen dort sogar 27!
– Im Frühjahr 1949 wieder 3 Sichler bei Rheydt.
– Am 13.10.1949 sogar 4 dort.
– Um 1960 wurde wieder einer geschossen zwischen Niederzier-Steinstraß (Kreis Düren) und Elsdorf (Rhein-Erft-Kreis).
– Am 21.10.1967 wurde ein adulter Sichler an einem abgelassenen Fischteich des Teichgutes Hausdülmen (Kreis Recklinghausen) beobachtet. Am folgenden Tag wurden 5 adulte und 2 K1-Sichler auf den etwa 7 km Luftlinie entfernten Rieselfeldern von Hausdülmen entdeckt, wo sich dann vom 23.-30. Oktober die 5 adulten aufhielten (Balthasar & Schäfer 1968).
– Ebenfalls am 21.10.1967 fand Reinhold Neugebauer (Dortmund) einen Sichler im Ruhrtal bei Geisecke (damaliger Kreis Iserlohn). Offenbar derselbe Vogel wurde am folgenden Tag dort auch von Brinkmann und Schulte beobachtet.

Mildenberger weist darauf hin, dass die Sichler im Rheinland vorwiegend im Bereich der Köln-Aachener Bucht beobachtet worden sind. Aus den Jahrzehnten danach liegen die folgenden Nachweise vor:
– 3.-9.10.1975 ein K1 in den Rieselfeldern Münster (I. Blindow, M. Harengerd u.a.) – vom Raritäten-Komitee der Westfälischen Ornithologengesellschaft (WOG) anerkannt.
– 6.9.1987 einer bei Rheinberg-Eversael (Kreis Wesel) (G. Hussmann) – von der DSK anerkannt
– 21.7.1988 Erftstadt-Kierdorf (Rhein-Erft-Kreis) (W. v. Dewitz) – von der DSK anerkannt.
– 2.-11.5.1990 einer bei Lipperode (Kreis Soest) (P. Hoffmann, G. McMullan, T. Laumeier u.a.) – vom Seltenheitenausschuss der WOG anerkannt.
– 27.9.-2.10.1994 einer bei Geilenkirchen (Kreis Heinsberg) (W. Quaedackers, Herr Preuth) – von der Seltenheitenkommission der Gesellschaft Rheinischer Ornithologen (GRO) anerkannt.
– 7.-10.12.2002 einer bei Lippetal-Lippborg (Kreis Soest) (A. Müller, B. Beckers, W. Pott u.a.) – von der DSK anerkannt.
– 16./17.8.2006 ein K1 bei Siersdorf (Kreis Düren) (U. Haese, K. Gluth, H. Schwarthoff, D. Lück u.a.) – von der AviKom anerkannt; DSK-Entscheidung liegt noch nicht vor.
– 22.8.2006 ein K1 (evtl. dasselbe Individuum?) im NSG Wurmtal (Kreis Achen) (U. Haese, U. Thorwesten) – von der AviKom anerkannt; DSK-Entscheidung liegt noch nicht vor.
– 19.-25.5.2007 einer bei Rheinberg-Eversael (Kreis Wesel) (K.-H. Gaßling, P. Lengler, J. Peters, F. Bindrich u.a.) – von der AviKom anerkannt; DSK-Entscheidung liegt noch nicht vor.
– 20.5.2007 einer in den Rieselfeldern Münster (J. Heckmanns, R. Oades) – von der AviKom anerkannt; DSK-Entscheidung liegt noch nicht vor.

davert Der Davert-Sichler von 1911, Präparat im LWL-Museum für Naturkunde. Foto: LWL/Oblonczyk.

Bei dem adulten Sichler, der am 21. Oktober 1967 in den Schlammflächen des abgelassenen Fischteichs in Hausdülmen stand, konnten Balthasar & Schäfer (1968) sogar Nahrungsstudien betreiben: Er erbeutete hauptsächlich Rückenschwimmer (Notonecta glauca), die dort massenhaft vorkamen; außerdem fraß er Spitzschlammschnecken (Lymnaea stagnalis), deren Gehäuse er vorher auf dem Sanduntergrund zerstrümmerte. Die Vögel dort in den Rieselfeldern schluckten oft Regenwürmer.

Bauer et al. (2005) betonen, dass die Bestände und Areale der Sichler in Europa in den vergangenen 150 Jahren stark zusammengeschrumpft sind. Vor allem in Südosteuropa wurde die negative Entwicklung besonders deutlich, wo wichtige Brutgebiete ab den 1950er Jahren Verluste von 50 bis 100 Prozent erlitten (früheres Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien). Am Kis Balaton in Ungarn brachen vorher die Bestände von 1000 Brutpaaren um 1925 auf Null um 1954 zusammen.

In den letzten Jahren gibt es deutlich positive Entwicklungen vor allem im Südwesten: In Spanien wurden starke Zunahmen der Brutbestände beobachtet. Sichler brüteten dort 1993 und 1994 nach jahrzehntelanger Unterbrechung bei Valencia, dann von 1996 an im Donana-Nationalpark und im Ebro-Delta. Danach gab einen geradezu dramatischen Anstieg: 2009 waren es etwa 2000 Paare im Donana-Gebiet und 2007 ungefähr 119 im Ebro-Delta. Ebenfalls starkes Wachstum der Populationen wird aus Frankreich beschrieben: Noch zur Jahrtausendwende waren Sichler ziemlich seltene Gäste in Frühjahr und Herbst. 2006 brüteten dann 14 Paare in der Camargue, 45 Paare in 2007, 96 Paare in 2008 und 254 (!) in 2009 (Gantlett & Millington 2009).

So können die Beobachter auch in Nordrhein-Westfalen in den kommenden Jahren durchaus mit verstärktem Auftreten dieser interessanten braunen Stocherer rechnen.

Die Sichler von Holsen wurden von der Deutschen Seltenheitenkommission anerkannt (DSK 1996). Vielleicht waren es dieselben beiden Individuen, die drei Tage später am niedersächsischen Dümmer von Flore, Becker & König beobachtet wurden (ebenfalls von der DSK anerkannt). Da nicht jeder Sichler in NRW auch ein Sichler (Plegadis falcinellus) sein muss, sollten am besten mit Hilfe von Fotos der ähnlich aussehende Punaibis (Plegadis ridgwayi) und auch der Brillensichler (Plegadis chihi) ausgeschlossen werden, die dann natürlich aus einer Vogelhaltung entkommen oder freigelassen sein müssen (Radomski 2009).

Danksagung: Bedanken möchte ich mich bei Fitte Busch (Bünde), von dem ich Fotos und weitere Angaben erhalten habe, und bei Jan Ole Kriegs (LWL-Museum für Naturkunde Münster) für Recherchen und Fotos des Davert-Sichlers.

Literatur:

Balthasar, J. & K. J. Schäfer (1968): Braunsichler (Plegadis falcinellus) in Westfalen. Ornithologische Mitteilungen 20: 45.

Bauer, H.-G., E. Bezzel & W. Fiedler (2005): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas – Nonpasseriformes – Nichtsingvögel. Wiebelsheim.

Deutsche Seltenheitenkommission (1996): Seltene Vogelarten in Deutschland 1994. Limicola 10: 209-257.

Gantlett, S. & R. Millington (2009): The Glossy Ibis invasion in autumn 2009. Birding World 22: 424-434.

Mester, H. & W. Prünte (1967): Sammelbericht für die Zeit von Mai bis Oktober 1967. Anthus 4: 121-133.

Mildenberger, H. (1982): Die Vögel des Rheinlandes, Band 1. Düsseldorf.

Millington, R. (2009): The Glossy Ibises in September 2009. Birding World 22: 389-391.

Peitzmeier, J. (1969). Avifauna von Westfalen. Münster.

Radomski, U. (2009): Seltene Vogelarten in Schleswig-Holstein und Hamburg. Neumünster.

Smulders, R. & P. Slingerland (1996): Influx van Zwarte Ibis in Nederland en West-Europa in najaar 1994. Dutch Birding 18:293-301.

Söding, K. (1953): Vogelwelt der Heimat. Recklinghausen.

van den Berg, A. B. (1994): WP reports. Dutch Birding 16: 248-256.

van den Berg, A. B. & C. Bosmann (1999). Rare birds of the Netherlands. Utrecht.

Anschrift des Verfassers:
Eckhard Möller
Stiftskamp 57
32049 Herford