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VdM 07/2018

Die Rohrschwirle von Krickenbeck

Von Eckhard Möller

Das harte Schwirren der Rohrschwirle (Locustella luscinioides) war den Ornithologen im Deutschland des 19. Jahrhunderts offenbar nicht bekannt (Abb. 1). Das sollte sich ändern, als zur Brutzeit 1904 rheinische Naturforscher sich die Verlandungszonen der Krickenbecker Seen im heutigen Kreis Viersen vornahmen.

Abb. 1: Rohrschwirl Rieselfelder Windel Bielefeld 2.7.2014. Foto: Bernhard Walter

Abb. 2: Hinsbecker Bruch mit dem Schloss Krickenbeck. Foto: Hans-Georg Wende 7.4.2016

Abb.3: Verlandungszone am Hinsbecker Bruch. Foto: Hans-Georg Wende 6.5.2016

Abb. 4-7 Rohrschwirl vom 21.6.1904 Museum Koenig Bonn. Fotos: Kathrin Schidelko & Darius Stiels Juni 2016

Abb. 8-11 Rohrschwirl vom 8.6.1904 Museum Koenig Bonn. Fotos: Kathrin Schidelko & Darius Stiels Juni 2010.

Abb. 12, 13: Mildenbergers Rohrschwirl-Gelege im Museum Bislich. Fotos: Ingbert Schwinum Juni 2018.

Einer von ihnen war Otto le Roi (1878-1916), der in Bonn Zoologie und Pharmazie studiert und 1906 promoviert hatte. Sein umfangreiches Werk „Die Vogelfauna der Rheinprovinz“ (1906) ist bis heute einer der Klassiker in Nordrhein-Westfalen und im benachbarten Rheinland-Pfalz. Er arbeitete als Assistent bei Alexander Koenig in Bonn, dem Begründer des gleichnamigen Naturkundemuseums. 1916 wurde er als Soldat im Krieg in Galizien getötet.

Am 1. Juli 1904 schrieb le Roi (damals 26 Jahre alt) einen langen Brief an seinen Freund Otto Held (1875-1945), Apotheker in Dobbertin (Kreis Ludwigslust-Parchim, Mecklenburg-Vorpommern), unter anderem über seine Examensprüfungen und fuhr fort:

„ Das hervorragendste aber von allem und geeignet, Aufsehen zu erregen, ist die Konstatierung von Locustella luscinioides als Brutvogel im Rheinland! Bisher aus ganz  Deutschland nur die 2 Beobachtungen von Flöricke in Schlesien, die wie Alles von diesem ‚Autor‘ sehr unsicher! Reichenow nennt in seinen ‚Kennzeichen‘ 1902 die Art überhaupt nicht als deutsche! Ein guter Bekannter, Baron Geyr von Schweppenburg (Dir jedenfalls aus der Literatur bekannt; noch ein junger Herr u. seit diesem Semester hier ‚Jura‘ studierend, ausgezeichneter Beobachter u. seit 2 Monaten fast täglich bei mir) schoss am 8. Juni 1904 bei Krickenbeck, Kreis Geldern einen Vogel, den er als Locustella naevia nach hier zum Praeparator sandte. Darob große Meinungsverschiedenheit im zool. Institut! Reichensperger hielt ihn für Acrocephalus, Becker anfangs auch, Prof. König für Acr. palustris!, die anderen wussten überhaupt nichts zu sagen. Von vorherein hatte ich die Anschauung vertreten es sei ein Locustella. Zuerst glaubte ich an naevia, dann nahm ich dies zurück, aber nicht die Locustella und schließlich entdeckte ich, dass es luscinioides sei, woran ich wegen der ausserordentlichen Seltenheit im Anfang nicht zu denken wagte. Dieses erste sichere deutsche Exemplar ziert jetzt meine Sammlung (jetzt rund 450 Stück). König gab mir schließlich recht u. ein paar Tage darauf fuhren wir, Prof. König, Geyr v. Schw. et moi nach dem gelobten Lande, um an Ort und Stelle nachzuforschen. Eine interessante Fahrt, diese Entdeckungsreise: 4 ½ Stunden Bahnfahrt (3x umsteigen), dann im Automobil eine weite Strecke, Aufnahme und ‚Nachtlager‘, Essen etc. bei Sr. Erlaucht, Graf von Schaesberg auf Schloss Krickenbeck, Fusswanderung, Heide, Sumpf, dann Wasser bis an die Kniee, 4 Stunden lang darin umher, völlig durchnässt, Sturm u.s.w. Also die verwickeltsten Umstände. Resultat: Mindestens 8 Paare gehört u. gesehen, von Prof. K. 1♂ gänzlich zerschossen, 1 taugliches erlegt, von mir 1 herrliches ♂ mit dem treuen Schiessstock geschossen. Demnach glänzender Erfolg! V. Geyr hat als erster Entdecker, wenn auch nicht Erkenner langen Bericht an Reichenow gesandt, erscheint September oder Oktober“ (Schreibweise im Original) (Seemann 2009: 38/39) (Abb. 2-7).

Ein paar Monate später wurde der Bericht von Geyr v. Schweppenburg in den „Ornithologischen Monatsberichten“ veröffentlicht:

„Am 6. Juni besuchte ich mit dem Grafen Richard von Schaesberg den sogenannten Pittges-Bruch, der sich am südwestlichen Ende des ‚Hinsbecker Bruch‘ genannten Sees befindet. Der Bruch ist teilweise mit Arundo, Carex und Juncus-Arten bewachsen und mit mehr oder weniger ausgedehnten und zusammenhängenden Gebüschen von Myrica gale (Gagelstrauch. E.M.), Weiden und Erlen bestanden, aus denen vereinzelte wenige Meter hohe Birken hervorragen. Einzelne Teile des Bruches sind nicht besonders nass, doch steht das Wasser an den meisten Stellen 20-60 cm hoch; auch befinden sich einzelne recht tiefe Wasserarme darin.

Eben hatte ich ein Pärchen der hier zu Lande recht selten brütenden Wiesenweihe, Circus pygargus, geschossen und das Nest mit fünf Eiern gefunden, als das Schwirren einer Locustella zu mir herüberklang. Locustella naevia! dachte ich, da ich den Heuschreckenschwirl wohl auf dem Zuge gesehen, aber noch nicht am Brutplatze beobachtet hatte. … Ich dachte zwar an luscinioides, wies den Gedanken aber als vermessen zurück und war der Ansicht, eine naevia beobachtet zu haben. Am 8ten watete ich wieder im Bruche umher und schoss einen der Schwirrle, als er nach beendetem Gesang in einem Weidenstrauch hinabkletterte. In der Hand kam mir der Vogel zwar sehr merkwürdig vor – die Grösse, die dunkel olivenbraune Färbung – aber an luscinioides wollte ich noch immer nicht glauben. Ich schickte den Vogel gleich nach Bonn, um ihn bei meiner Rückkehr genauer zu untersuchen. Beim Präparator bekam Herr le Roi ihn zu Gesicht und erkannte in ihm begreiflicher Weise nicht ganz ohne Schwierigkeiten Locustella luscinioides“ (Geyr v. Schweppenburg 1904: 145/146) (Abb. 8-11).

Im Magen des geschossenen Rohrschwirls fanden sich Reste von Käfern, kleinen Raupen und Dipteren.

Hans Freiherr Geyr von Schweppenburg (1884-1963) begann 1906 ein forstwissenschaftliches Studium in Hann. Münden, in den folgenden Jahren nahm er an Expeditionen von Alexander Koenig in die Arktis und nach Afrika teil. Als Soldat im Krieg überlebte er, verlor aber beide Beine. Danach promovierte er und wurde 1924 außerordentlicher Professor für Ornithologie, Forstschutz und Waldbau in Hann. Münden; Ruhestand 1938. Er war einer der bekanntesten deutschen Ornithologen seiner Zeit.

Die weitere Entwicklung der kleinen rheinischen Rohrschwirl-Population haben Neubaur (1957), Mildenberger (1984) und Hubatsch (1996) ausführlich beschrieben.

Rund 50 Jahre nach der Entdeckung der ersten Rohrschwirle hat sich Heinz Mildenberger (1913-1984), Haupt-Verfasser der beiden Bände über die Vögel des Rheinlands, an den Krickenbecker Seen mit der Brutbiologie dieser seltenen Vögel beschäftigt. Verschwiegen hat er allerdings in seiner folgenden Veröffentlichung darüber im Journal für Ornithologie (Mildenberger 1958), dass er damals mindestens vier Gelege ausgenommen und die Eier seiner Privatsammlung einverleibt hat. Sie befinden sich heute im Museum in Wesel-Bislich (Abb. 12, 13).

Im Landesteil Westfalen übrigens wurde der erste Rohrschwirl erst am 8. Mai 1955 von v. Krosigk und Rehage  an den Hausdülmener Fischteichen (Kreis Recklinghausen) nachgewiesen – er hat es überlebt (Peitzmeier 1969).

Danksagung: Mein großer Dank geht an Kathrin Schidelko & Darius Stiels, die die Bälge in der Sammlung des Museums Koenig in Bonn aufgespürt und fotografiert haben, an Hans-Georg Wende für die Fotos vom Hinsbecker Bruch, an Ingbert Schwinum für die Fotos der Bislicher Eier, an Bernhard Walter für das zauberhafte Bild des Rohrschwirls und an Daniel Hubatsch und Peter Kolshorn für ihre Unterstützung bei den Recherchen.

Literatur

Geyr von Schweppenburg, H. (1904): Locustella luscinioides (Savi), ein Brutvogel der Rheinprovinz. Ornithologische Monatsberichte 12: 145-147.

Hubatsch, K. (1996): Die Vögel des Kreises Viersen. Bergheim.

Mildenberger, H. (1958): Zur Oekologie und Brutbiologie des Rohrschwirls (Locustella luscinioides). Journal für Ornithologie 99: 92-99.

Mildenberger, H. (1984): Die Vögel des Rheinlandes, Band 2. Düsseldorf.

Neubaur, F. (1957): Beiträge zur Vogelfauna der ehemaligen Rheinprovinz. Decheniana 110: 1-278.

Peitzmeier, J. (1969): Avifauna von Westfalen. Münster.

le Roi, O. (1906): Die Vogelfauna der Rheinprovinz. Verhandlungen des Naturhistorischen Vereins der preußischen Rheinlande und Westfalens 63: 1-325.

Seemann, R. (2009): Otto le Roi (1878-1916) – Zoologe aus Leidenschaft. Archiv der Freunde der Naturgeschichte in Mecklenburg XLVIII: 5-70.

Anschrift des Verfassers:

Eckhard Möller

Stiftskamp 57

32049 Herford