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VDM 01/2010

Die Seidenreiher von Nordrhein-Westfalen
– Ein kurzer Überblick

von Benjamin Steffen

„Lass uns doch noch eben nach Rheinberg fahren, da war letztens ‘n Seidenreiher”, sagte Georg Sennert am 6. September 2001 nach einer mittelmäßig erfolgreichen Beobachtungstour. Wir waren auf der Suche nach Braunkehlchen, Steinschmätzern sowie potentiellen Brachpiepern und Mornellregenpfeifern auf der Kerkener Platte unterwegs, einer ausgedehnten Ackerfläche im südlichen Kreis Kleve. „Wenn wir uns beeilen, schaffen wa dat noch. Sonst wirste ja schwermütig hier!”

Da die Tageslichtperiode in absehbarer Zeit zu enden drohte, fuhren wir also recht zügig in Richtung des Rheins. Mit Einbruch der Dämmerung erreichten wir die Gebiete bei Rheinberg, in denen zur Zugzeit an unterschiedlichen Stellen mehr oder weniger viele Wasservögel und Limikolen rasten. Gerade stiegen wir aus dem Auto, da rief Georg: „Da fliegt er ja!” Und richtig: Fast direkt über unseren Köpfen sahen wir einen kleineren weißen Reiher mit zügigem Flügelschlag über uns hinwegrudern. Wir verfolgten ihn, bis er unseren Blicken entschwand…

Bis Ende der 1980er Jahre stellte die Beobachtung eines Seidenreihers in NRW eine große Seltenheit dar. Mittlerweile erfreuen Seidenreiher die Beobachter in Westfalen und vor allem im Rheinland alljährlich. Aus diesem Grund und weil in neuerer Zeit keine Beobachtung dieser relativ einfach zu bestimmenden und auffälligen Art von einer für NRW zuständigen Seltenheitenkommission abgelehnt werden musste, entließ die AviKom der NWO den Seidenreiher zum 1. Januar 2009 aus der Meldeliste. Zeit also für einen kleinen Rückblick…

Wie selten noch vor etwa 20 Jahren die Beobachtung eines Seidenreihers war, zeigt die Tatsache, dass bis zum Jahre 1990 insgesamt nur 14 Nachweise aus NRW vorlagen. Dabei wurde der Erstnachweis für unser Bundesland bereits zur wilhelminischen Zeit erbracht, als am 16. Mai 1910 ein adultes Weibchen im westfälischen Lippborg bei Beckum erlegt wurde [13]. Es sollte jedoch über 40 Jahre dauern, bis Mitte April 1952 der nächste Nachweis dieser eleganten Reiher in unseren heimischen Gefilden gelang [15]. Ab Ende der 1960er Jahre wurde die Art regelmäßiger beobachtet, wobei sie jedoch bis Ende der 1980er Jahre eine große Seltenheit blieb. Ab dem Jahre der deutschen Vize-Europameisterschaft 1992 wurden Seidenreiher in Nordrhein-Westfallen alljährlich beobachtet. Jedoch sollten erstmals 1999 mehr als zwei Nachweise innerhalb eines Jahres erfolgen – und zwar gleich sieben an der Zahl! In den „Nullerjahren” erschienen bis einschließlich 2008 bei einem Mittelwert von 5,1 jährlich 1-8 Seidenreiher. Bis zum Ende der „Meldepflicht” 2008 liegen insgesamt 79 Beobachtungen vor. Das Auftreten von Seidenreihern in NRW nach Jahren veranschaulicht dabei Abb. 1.

abb1-seidenreiher-1910-2008 Abb. 1: Verteilung der Nachweise von Seidenreihern in Nordrhein-Westfalen 1910-2008 nach Jahren (n = 79). Die kleine Grafik verdeutlicht das Auftreten seit 1990. Bei Nachweisen von länger verweilenden Individuen wurde jeweils nur das erste Beobachtungsdatum gewertet.

abb-2_seidenreihernachweise-nach-dekaden3 Abb. 2: Jahreszeitliche Verteilung aller Beobachtungen von Seidenreihern in Nordrhein-Westfalen 1910-2008 (n = 79). Bei Nachweisen von länger verweilenden Individuen wurde jeweils nur das erste Beobachtungsdatum gewertet.

Die heutige europäische Brutverbreitung des Seidenreihers erstreckt sich über weite Teile des Mittelmeerraums, von der portugiesischen Küste über den Balkan östlich bis zum Kaspischen Meer. Im Norden reichen die Brutgebiete bis in die Bretagne und mittlerweile auch in die Niederlande und England.

Dabei ist die Bestandsentwicklung des Seidenreihers sehr wechselvoll. In der viktorianischen Zeit litten sie sehr stark unter der direkten Verfolgung durch den Menschen: Ihre Schmuckfedern waren sehr beliebt. Es kam zu dramatischen Bestandseinbrüchen, von denen sich die Art erst ab Beginn des 20. Jahrhunderts wieder erholen konnte. So wurde Frankreich beispielsweise im Jahre 1931 wiederbesiedelt [6]. Ab den 1950er Jahren nahmen die Bestände stetig zu und es erfolgte eine Arealausweitung. So fand in den Niederlanden die erste Brut dieser Art 1979 statt, seit Mitte der 1990er Jahre ist der Seidenreiher in unserem Nachbarland ein regelmäßiger Brutvogel, dessen Bestand Ende der 90er Jahre bereits mit 5-20 Brutpaaren angegeben wurde [6] und mittlerweile auf 135-150 Paare im Jahre 2007 beziffert wird [18]. Auch der Süden Englands beherbergt inzwischen  146-162 Brutpaare sowie bis zu 1600 überwinternde Vögel [17]. Mit der Zunahme der Art kam es auch in Deutschland zu vermehrten Nachweisen (z.B. [8]-[12]). Es kam sogar bereits zu einzelnen Brutnachweisen in Deutschland: 1992 brütete ein Paar erfolgreich am Donaualtwasser Donaustauf bei Regensburg [16]. Ein weiterer deutscher Brutnachweis erfolgte vier Jahre später [6].

Als Zugvogel überwinterten die Seidenreiher vormals größtenteils in Afrika bis in Äquatornähe [5], [6]. Seit den 1950er Jahren kam es jedoch zunehmend zu Überwinterungen im Mittelmeerraum [15]. Gebietsweise bildeten sich dabei im Laufe der Zeit – wie im Süden Englands – größere Standvogelanteile heraus.

abb3-seidenreiher-herne1 Abb. 3: Seidenreiher am 8. September 2003, Teich am Erlenweg, Herne-Süd. Foto: Hendrik Weindorf.

abb-4_gebiet1 Abb. 4: So manch ein Seidenreiher wählte für seinen Aufenthalt in NRW einen ungewöhnlichen Aufenthaltsort, so wie ein Vogel Anfang September 2003 diesen Teich in Herne. Foto: Hendrik Weindorf.

abb-5_seidenreiher_28409_el-gouna1 Abb. 5: Seidenreiher im Prachtkleid. Der Vogel zeigt die im Vergleich zum amerikanischen Schmuckreiher Egretta thula charakteristische blau-graue Zügelfärbung. 28.4.2009, El Gouna, Ägypten. Foto: Benjamin Steffen.

Entsprechend des Zugverhaltens dieser Art fällt das Gros der insgesamt 79 Nachweise aus NRW in die späten Frühjahrs- und in die Sommermonate. Dabei ist der Mai mit insgesamt 31 Beobachtungen der Monat mit den meisten Nachweisen, von diesen Meldungen fallen alleine 15 auf die letzte Maidekade. Neben diesem Peak im Mai gibt es eine weitere Konzentration von Nachweisen in der letzten Juli- und der ersten und zweiten Augustdekade (vgl. Abb. 2). 74 Meldungen stammen aus dem Zeitraum 27. März – 8. Oktober. Dieses Auftretensmuster fügt sich nahezu nahtlos in das bekannte Bild der Wanderungen dieser Art ein, nach dem die europäischen Brutvögel ab April an den Brutplätzen eintreffen und von August bis in den Dezember in südwestliche Richtung den Zug in die Winterquartiere antreten [6]. Dabei neigt die Art im Rahmen des Frühjahrszugs zur so genannten Zugprolongation, also zu einer Verlängerung des Zugwegs über das eigentliche Ziel hinaus. Dieses Phänomen dürfte die Häufung der Beobachtungen im Mai erklären, der zweite Peak im Juli und August lässt sich durch Streuungswanderungen von Alt- und Jungvögeln sowie durch den einsetzenden Wegzug begründen [6]. In den letzten Jahren trat jedoch in NRW mit der Beobachtung von Seidenreihern in den Wintermonaten ein neues Phänomen in Erscheinung. Mittlerweile liegen drei Nachweise aus dem Januar und zwei aus dem Dezember vor.

Mit der Zunahme der Nachweise in NRW ging auch ein gehäuftes Auftreten von mehreren Individuen oder sogar kleinen Trupps sowie eine Verlängerung der Aufenthaltsdauer einher. Insbesondere im Bereich des Niederrheins kam es in den letzten Jahren zu längeren Aufenthalten von bis zu sechs Seidenreihern [7]. In den Naturschutzgebieten Walsumer Rheinaue und Orsoyer Rheinbogen hielten sich im Jahre 2007 im Zeitraum 25. Mai – 22. Oktober maximal fünf Vögel, 2008 vom 20. Juni – 31. August sogar bis zu sechs Seidenreiher auf.

Es bleibt abzuwarten, wie sich das Auftreten dieser eleganten Vögel in NRW weiterentwickeln wird. Kommt es schon in naher Zukunft bereits zur ersten Brut am Niederrhein…? Um diese interessante Entwicklung weiter verfolgen zu können, wird darum gebeten, weiterhin alle Beobachtungen von Seidenreihern an das Team Sammelbericht der NWO zu melden.

Danksagung
Für die Hilfe bei der Recherche nach alten Nachweisen des Seidenreihers sei Benedikt Gießing, Stefan Sudmann, Wil Quaedackers und vor allem Eckhard Möller herzlich gedankt. Hendrik Weindorf stellte dankenswerterweise Fotos zur Verfügung.

Literatur
[1]  Avifaunistische Kommission der NWO (2007a): Seltene Vogelarten in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2006. Charadrius 43: 57-65.

[2]  Avifaunistische Kommission der NWO (2007b): Seltene Vogelarten in Nordrhein-Westfalen in den Jahren 2000 bis 2005. Charadrius 43: 66-91.

[3] Avifaunistische Kommission der NWO (2008): Seltene Vogelarten in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2007. Charadrius 44: 49-66.

[4] Avifaunistische Kommission der NWO (2009): Seltene Vogelarten in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2009. Charadrius 45: 105-119.

[5] Bauer, Kurt M. & Urs N. Glutz von Blotzheim (1966): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Bd. 1 Gaviiformes – Phoenicopteriformes. Akademische Verlagsgesellschaft, Wiesbaden.

[6] Bauer, Hans-Günther; Einhard Bezzel, Wolfgang Fiedler (2005): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas. Alles über Biologie, Gefährdung und Schutz. 2. Aufl. Wiesbaden: Aula Verlag.

[7] Beckmann, Dietmar (2008): Übersommerung von Seidenreihern Egretta garzetta im NSG „Rheinaue Walsum” und im NSG „Orsoyer Rheinbogen” während des Sommers 2007. Charadrius 44: 36-39.

[8] Deutsche Seltenheitenkommission (1998): Seltene Vogelarten in Deutschland 1996. Limicola 12: 161-227.

[9] Deutsche Seltenheitenkommission (2000): Seltene Vogelarten in Deutschland 1997. Limicola 14: 273-340.

[10] Deutsche Seltenheitenkommission (2002): Seltene Vogelarten in Deutschland 1998. Limicola 16: 113-184.

[11] Deutsche Seltenheitenkommission (2005): Seltene Vogelarten in Deutschland 1999. Limicola 19: 1-62.

[12] Deutsche Seltenheitenkommission (2006): Seltene Vogelarten in Deutschland 2000. Limicola 20: 281-352.

[13] Koch, Rudolf (1910): Jahres-Bericht 38 (1910) der Zoologischen Sektion des Westfälischen Provinzialvereins für Wissenschaft und Kunst für das Rechnungsjahr 1909-1910.

[14] Mildenberger, Heinz (1982): Die Vögel des Rheinlandes. Band I, Seetaucher – Alkenvögel (Gaviiformes – Alcidae). Beitr. Avifauna Rheinland Heft 16-18. Düsseldorf.

[15] Peitzmeier, Joseph (1969): Avifauna von Westfalen. Münster.

[16] Vidal, Armin & Liebl, Franz (1992): Erfolgreiche Brut des Seidenreihers Egretta garzetta bei Regensburg. Ornithol. Anz. 31: 175-177.

[17] http://www.rspb.org.uk/wildlife/birdguide/name/l/littleegret/

[18] http://www.sovon.nl/pdf/Mon_2009_01Broevorap.pdf

Anschrift des Verfassers:
Benjamin Steffen
Salbeistraße 29
26129 Oldenburg