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VdM 06/2010

Der Seidensänger von Lünen

Von Andreas Buchheim

Viele Beobachter Nordeuropas kennen Seidensänger (Cettia cetti) von Urlaubstouren in die Mittelmeerregion. Dort gehört der laute, aus dem Unterholz vorgetragene Gesang zum charakteristischen Klangbild. Diesen zumeist entlang von Gewässern vorkommenden Vogel allerdings zu sehen, geling nur mit erheblichem Aufwand. Hat man mal Glück, dann ist der Spuk in Bruchteilen von Sekunden vorüber und es können wieder viele Minuten vergehen, bis der kleine, unspektakulär gefärbte Singvogel – oberseits braun und unterseits grau – wieder beobachtet werden kann.

seidensaengerok seidensaengercm seidensaengercm2 seidensaengertr So ähnlich hat er ausgesehen, dieser Seidensänger. (Fotos von links nach Rechts: Auf Mallorca (c) Ole Krome; zwei Fotos von Lesbos (c) Christoph Moning; in Aserbaidschan (c) Tobias Rautenberg)

Wasservogelbrutbestände zu erfassen ist in weiten Teilen Westfalens eine fast schon monoton zu nennende Tätigkeit. Im Regelfall stellen Stockente, Bläss- und Teichhuhn die Mehrheit der zu zählenden Arten. Vielfach jedoch wird das Artenspektrum durch Reiher- und Tafelente, Hauben- und Zwergtaucher sowie Höckerschwan bereichert. Inzwischen gehören auch einige Neozoen dazu. Überraschungen erlebt man bei diesen Erhebungen selten. Dennoch haben Alfons Pennekamp und ich rund 15 Jahre lang versucht, die Wasservögel auf einem ungefähr 40km langen Abschnitt der Lippe – etwa von Lünen bis Haltern – vom Kanu aus zu zählen. Da sich während unserer Fahrten zeigte, dass die Brutvögel, insbesondere wenn sie schon Junge führten, ohnehin unter Freizeit-Wassersportlern (Kanufahrer und Angler) litten, beschränkten wir uns auf lediglich eine Kartierungsfahrt. Dies ist natürlich nicht viel, aber wir hielten es mit der Devise: Schutz geht vor Datenerfassung.

Seit dem 18.Juli 1991 passen nun die beiden vorigen Abschnitte zusammen! Früh morgens hatten wir unser weißes Dreieinhalbmeter-Kanu unterhalb des Kraftwerks Lünen zu Wasser gebracht. Die Witterung hätte durchaus besser sein können. Trotzdem begannen wir mit unserem neunstündigen Job: Paddelten langsam flussabwärts, schauten mit den Ferngläsern voraus, um keinen Haubentaucher zu verpassen, lugten unter jede überhängende Weide (Salix), damit uns ja kein Nest entging und notierten die Daten. So weit – so gut.

Bereits nach der ersten Biegung riss uns eine vertraute, dezibelhaltige Melodie aus unserer Routine: Ein unvermittelt einsetzender lauter Gesang, der ebenso unvermittelt wieder endete und sofort an Seidensänger denken ließ. Die Strophen kann man ungefähr so beschreiben: stsju = erster Ton, der stets unvermittelt und laut einsetzte und auf den stets eine Pause folgte, die aber wohl nicht länger als eine Sekunde war. Auf diese folgte dann stsjuis – ziti – stsju ist – stsju ist – tschiu – leiser werdend, aber ziemlich hektisch.

Bafff. Was ein Knaller! Natürlich hatten wir ihn sofort erkannt. Schließlich hatten wir uns vorher mehrfach in Gebieten herumgetrieben, in denen Seidensänger nicht selten sind. Was nun? Wir wendeten das Kanu. Vielleicht würde der Vogel uns ja mehr als einmal die Ehre geben. Und in der Tat: Innerhalb der Wartezeit erschallte der Gesang stets mit einigem (zeitlichem) Abstand zueinander aus dem Gestrüpp. Zu sehen war indes nichts. Um unsere Wasservogelzählung abschließen zu können, konnten wir leider nicht allzu lange warten. Folglich fuhren wir alsbald weiter. Nach Abschluss der Fahrt – Handys besaßen wir damals nicht – begannen wir mit dem bei Raritäten ratsamen Prozedere: Weitere Vogelbeobachter zu informieren und erneut nach dem Vogel zu suchen.

In den Folgetagen verbrachten wir mit diversen Beobachtern viel Zeit im Brennnesselgestrüpp am Ufer der Lippe im NSG Zwiebelfeld. Trotz des Einsatzes einer Klangattrappe gelang es uns nicht, den Vogel zum erneuten Vortrag zu motivieren. Vielleicht hatten wir einen umherstreifenden Seidensänger angetroffen und der Vogel war zwischenzeitlich abgewandert. Vielleicht aber lag es auch an schlechteren Bedingungen. An den Tagen nach dem Nachweis herrschte stärkerer Wind bei für die Jahreszeit zu kühlen Temperaturen mit zum Teil Dauerregen. Wahrscheinlich deswegen sang außer einem Alpenbirkenzeisig im Naturschutzgebiet auch sonst kein Vogel. Nur das Rauschen der Blätter bildete einen Klangteppich. Auf Sichtkontakt zum braunen Schlüpfer hofften wir überhaupt nicht – alle Zweige und Stängel bewegten sich zu sehr. Wie sollten wir dabei einen Kleinvogel im Unterholz entdecken? Unmöglich. So blieb es auch bei unserem Eintagsvogel.

Der Seidensänger hat sein Areal in den letzten 20 Jahren von Süden entlang der Atlantikküste nordwärts ausgedehnt (Bauer et al. 2005) und brütet regelmäßig in den Niederlanden. 2009 waren es in unserem Nachbarland mindestens 110 singende Männchen, im Jahr davor etwa 90 (van den Berg & Haas 2010). Aus Deutschland liegt ebenfalls ein Brutnachweis vor: An den Derneburger Fischteichen 15 km südöstlich von Hildesheim in Niedersachsen hat 1975 ein Paar sogar zwei erfolgreiche Bruten durchgeführt (Becker 2005).

Aus Nordrhein-Westfalen liegen bisher erst sehr wenige Nachweise von Seidensängern vor:

Der Erste war ein Männchen, das vom 11. April bis zum 29. Juni 1975 in Mönchengladbach-Wickrath sang; es wurde in der Zeit auch gefangen und beringt (Heinen et al. 1976). Dieser Seidensänger wurde dann am 17. April 1976 in Belgien bei Oud-Heverlee in der Provinz Brabant erneut gefangen, 127 km entfernt (Mildenberger 1984).

Ein Männchen vom 10. Mai bis zum 4. Juni 1976 im Broichbachtal zwischen Alsdorf und Herzogenrath (Kreis Aachen); vielleicht war der Vogel sogar vom 12. April bis zum 17. August 1976 dort (Moll 1977).

Der Seidensänger von der Lünener Lippe vom 18. Juli 1991 wurde von der Deutschen Seltenheitenkommission anerkannt (DSK 1994).

Da Seidensänger ausgeprägte Standvögel sind (nur einige östliche Populationen ziehen), ging die Ausbreitung nur langsam voran. Vielleicht hat der vergangene Winter 2009/2010 die nördlichsten Bestände auch reduziert. Es könnte also viele Jahre dauern, bis wieder einmal ein Seidensänger in Nordrhein-Westfalen nachgewiesen wird.

Literatur

Bauer, H.-G., E. Bezzel & W. Fiedler (2005): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas – Passeriformes – Sperlingsvögel. Wiebelsheim.

Becker, P. (2005): Seidensänger Cettia cetti (Temm., 1820). In: Zang, H., H. Heckenroth & P. Südbeck: Die Vögel Niedersachsens und des Landes Bremen – Drosseln, Grasmücken, Fliegenschnäpper. Naturschutz und Landschaftspflege in Niedersachsen Sonderreihe B 2.9. Hannover.

van den Berg, A. B. & M. Haas (2010): WP reports. Dutch Birding 32: 134-142.

Deutsche Seltenheitenkommission (1994): Seltene Vogelarten in Deutschland 1991 und 1992. Limicola 8: 153-209.

Heinen, W., P. Mäurer & W. v. Kannen (1976): Nachweis eines Seidensängers bei Wickrath. Charadrius 12: 34.

Mildenberger, H. (1984): Die Vögel des Rheinlandes Bd. 2. Düsseldorf.

Moll, G. (1977): Seidensänger (Cettia cetti) bei Alsdorf/Kreis Aachen. Charadrius 13:30.

Anschrift des Verfassers:

Andreas Buchheim

Eichenstr. 1

45711 Datteln