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VdM 01/2017

Die Amurdrossel vom Broichbachtal

Von Michael Kuhn

Im Naturschutzgebiet Broichbachtal am südöstlichen Rand von Herzogenrath (Kreis Aachen) wächst ein sehr feuchter dunkler Erlenbruch mit dichter Strauch- und Krautschicht – ein nahezu undurchdringlicher Urwald. Mittendurch verläuft ein gepflasterter Fußweg, der relativ häufig von Fußgängern, Hundeausführern, Radfahrern, selten auch Mopeds benutzt wird.

Der rund einen halben Meter breite Wegrand war frisch gemäht, als Karl Gluth dort am 10. Oktober 1996 eine merkwürdige Drossel entdeckte. Sie kam immer nur zu Fuß aus dem Dickicht heraus auf den Randstreifen, wenn zehn Minuten oder länger keine Störung auf dem Weg war, zog ein Paar Regenwürmer aus dem Boden und verschwand danach wieder.

Am Abend rief Karl Gluth bei mir an und beschrieb den seltsamen Vogel sehr detailliert. Am folgenden Tag fuhren wir beide ins Broichbachtal, um ihn vielleicht wiederzufinden und zu beobachten. Das gelang auch gut.

Fotos 1 und 2: Die Amurdossel vom Broichbachtal, Oktober 1996. Fotos: Karl Gluth

Beschreibung:

Größe zwischen Amsel und Singdrossel (geschätzt). Gesamte Oberseite einfarbig dunkelblaugrau (im Ton wie ein adulter Wanderfalke) ohne Streifung oder Strichelung – also der gesamte Kopf einschließlich am Flügelbug beginnendem tief heruntergezogenem Brustlatz, Hals, Mantel, Schultern, Oberflügel, Bürzel, Oberschwanzdecken, Schwanzfedern. Keine Armdeckensäume. Die Großen Handdecken trugen subterminal auf der Innenfahne einen schwärzlichen Keil, so dass sich entlang dieser Federreihe eine nach hinten gezackte Binde zeigte. Auch die Alula war schwärzlich zentriert. Auf allen Schirmfedern war subterminal je ein verwaschener braunschwarzer Fleck undeutlich erkennbar. Die Handschwingen-Außensäume waren hellgrau.

Einzelne feine schwärzliche Fleckenlinien entlang Kinn und Kehle. Brustlatz nach hinten scharf abgesetzt. Auf der anschließenden Hinterbrustmitte verband ein 1-2 cm dicker leuchtend oranger Streifen die ebenso gefärbten breiten Brust- und Bauchflanken. Die Bauchmitte über dem Steiß bis zu den Unterschwanzdecken war reinweiß, am Übergang zu den Flanken scharf abgesetzt, der Übergang zur Hinterbrust mit rost-orangenen Flecken. Die Steißflanken waren ebenso blaugrau wie die Oberseite – nur bei leicht angehobenem Flügel sichtbar.

An den Federspitzen war keine Abnutzung erkennbar. Gefieder auch sonst in einwandfreiem Zustand.

Die Iris war schwarz (braun); Lidring sehr dünn, deshalb nicht eindeutig erkennbar, vermutlich blass schmutzig gelblich. Schnabel gesamt gelb, etwas verschmutzt durch Würmerziehen; First (sehr schwach) bräunlich verdunkelt, Schnabelwinkel besonders leuchtend hellgelb. Beine sehr hell beige-hornfarben. Die Drossel war nicht beringt.

Wir haben keine Lautäußerung gehört und den Vogel auch nicht fliegend gesehen. Es war unzweifelhaft eine männliche Amurdrossel (Grey-backed Thrush/Turdus hortulorum). Sie wurde am 12. Oktober an Ort und Stelle bestätigt, ab dem 13. Oktober aber von mehreren Beobachtern vergeblich gesucht.

Amurdosseln sind Vögel der Östlichen Paläarktis. Sie brüten im östlichen Sibirien bis etwa 62 Grad N und im Ussuriland und Amurland, im Süden bis zur Mandschurei in Nordost-China und Korea. Sie verlassen die Brutgebiete ab September und ziehen nach Süd- und Südost-China, Nord-Vietnam und Laos. In Hongkong treffen sie im November ein. Ab April geht der Zug wieder nach Norden (Brazil 2009, Clement & Hathway 2000). In Japan und auf Taiwan werden sie nur selten beobachtet (Brazil 2009).

Die Amurdrossel vom Broichbachtal wurde von der Deutschen Seltenheitenkommission anerkannt und unter die „möglicherweise, wahrscheinlich oder sicher entflogenen Arten“ eingestuft (DSK 1998). „An individual in Germany in October 1996 was considered to be an escape“, schrieben danach Clement & Hathway (2000). In den Listen über die Vögel der Westpläarktis ist derzeit keine Amurdrossel aufgeführt (z.B. http://birdlife.se/tk/vastpalearktislistan-ver-2-vp-2/). Haas (2012) hat die Art nicht in sein Buch über die extrem seltenen Vögel der Westlichen Paläarktis aufgenommen.

Man kann sich vorstellen, dass die Amurdrossel als gut aussehende, singende, relativ robuste Art auch das Interesse von Vogelhaltern und –züchtern hervorgerufen hat. Robiller (2014) beschreibt ausführlich seine Erfahrungen mit der Volierenhaltung, weist aber auch darauf hin, dass sie nur „gelegentlich gehalten“ und „nur hin und wieder angeboten“ werde.

In den deutschen Zoos ist die Art derzeit ganz offenbar kaum vorhanden: Es gibt nur eine einzige Angabe, dasselbe gilt für Belgien und Großbritannien (www.zootierliste.de). Weitere Recherchen im Internet ergaben, dass sie in Deutschland in nur sehr wenigen Volieren gehalten wird, wenn überhaupt. In den Nachzuchtstatistiken der Vereinigung für Artenschutz, Vogelhaltung und Vogelzucht e.V. (AZ) werden für das Jahr 2000 bei 1048 teilnehmenden Züchtern gar keine Amurdrosseln erwähnt, dasselbe gilt für das Jahr 2015 bei 1295 Züchtern. 2006 wurden 2 Paare gehalten (http://www.azvogelzucht.de/content/fpdf/create_nachzucht_fam.php?strUF=1090&jahr=2006).

Die Amurdrossel aus dem Kreis Aachen war nicht beringt, ihr Gefieder war makellos, es war die passende Jahreszeit für ziehende Vögel, ihr Verhalten war scheu und heimlich, und das Habitat im Broichbachtal entsprach genau dem in ihrem fernen Brutgebiet – in der Regel alles Kriterien, die in ihrer Summe für einen Wildvogel sprechen. „Nur wenn sie sich sicher und unbeobachtet fühlt, tritt sie auch aus der Deckung, um auf kurzrasigen Wiesen nach Würmern zu suchen“, schreiben Barthel & Dornberger (1998) und bezeichnen sie als „scheuen Bewohner feuchter Dickichte“.

Ob sie nun aus Ostsibirien oder aus einer europäischen Voliere stammte, wird letztlich niemand mehr sicher beantworten können. Eine Entscheidung darüber und eine Einstufung in eine Kategorie berühren Glaubensfragen.

Die Ansichten über das mögliche oder tatsächliche Erscheinen ostasiatischer Vögel im westlichen Europa haben sich allerdings in den vergangenen rund zehn Jahren deutlich gewandelt. Die derzeitige Birder-Generation hat in dieser Zeit die Nachrichten erlebt von Beobachtungen etlicher nordpazifischer und ostasiatischer Arten in der Westpaläarktis:

Pazifiktaucher (Pacific Diver/Gavia pacifica)

Bacchusreiher (Chinese Pond Heron/Ardeola bacchus) (jetzt in Kategorie A der britischen Liste, Hudson et al. 2016, www.birdguides.com)

Mehrere Alken-Arten

Beringmöwe (Glaucous-winged Gull/Larus glaucescens)

Kamtschatkamöwe (Slaty-backed Gull/Larus schistisagus)

Kronenlaubsänger (Eastern Crowned Warbler/Phylloscopus coronatus) (Möller et al. 2013)

Ussurilaubsänger (Pale-legged Leaf Warbler/Phylloscopus tenellipes) / Portenkolaubsänger (Sakhalin Leaf Warbler/Ph. borealoides)

Vielleicht auch Langzehen-Strandläufer (Long-toed Stint/Calidris subminuta).

Wenn in den nächsten Jahren irgendwo in Europa eine weitere Amurdrossel entdeckt werden sollte, ist es gut vorstellbar, dass auch der Vogel aus dem Broichbachtal von den zuständigen Kommissionen mit anderen Augen gesehen wird. Den Helgoländer Kronenlaubsänger hat Heimrich Gätke auch niemand geglaubt, bis dann im September 2002 der nächste in Norwegen gefangen wurde (Haas 2012). Weitere folgten seitdem.

Es wurde höchste Zeit, die interessante Drossel vom Oktober 1996 wieder in das Licht der Öffentlichkeit zu bringen…

Danksagung: Mein Dank geht an Darius Stiels, der wichtige Literatur besorgt hat, und an Eckhard Möller von der AviKom für vielfältige Unterstützung.

Literatur:

Barthel, P. H. & W. Dornberger (1998): Ostpaläarktische Drosseln Turdus, Teil II. Limicola 12: 1-19.

Brazil, M. (2009): Birds of East Asia. London.

Clement, P. & R. Hathway (2000): Thrushes. London.

Deutsche Seltenheitenkommission (1998): Seltene Vogelarten in Deutschland 1996. Limicola 12: 161-227.

Haas, M. (2012): Extremely rare birds in the Western Palearctic. Barcelona.

Hudson, N. & the Rarities Committee (2016): Report on rare Birds in Great Britain in 2015. British Birds 109: 566-631.

Knystautas, A. J. V. & J. B. Sibnev (1987): Die Vogelwelt Ussuriens. Wittenberg.

Möller, E., G. Brombach, U. Eidam, W. Fechner, D. Martin, D. Taylor & W. Waanders (2013): Nach 169 Jahren der zweite Nachweis eines Kronenlaubsängers Phylloscopus coronatus auf Helgoland. Ornithologischer Jahresbericht Helgoland 23: 106-110.

Robiller, F. (2014): Notizen über die Amurdrossel oder Sibirische Gartendrossel. Gefiederte Welt 12/2014: 8-11.

http://birdlife.se/tk/vastpalearktislistan-ver-2-vp-2/

http://www.zootierliste.de/?klasse=2&ordnung=227&familie=22726&art=2221105

http://www.azvogelzucht.de/content/fpdf/create_nachzucht_fam.php?strUF=1090&jahr=2006

http://www.birdguides.com/webzine/article.asp?a=6082

Anschrift des Verfassers:

Michael Kuhn

Bonner Ring 54

50374 Erftstadt