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VdM 03/2014

Das Spießflughuhn von Schermbeck

Von Eckhard Möller

Es  war dämmerig, als am Abend des 16. Mai 1972 ein Auto auf der Bundesstraße 58 zwischen Wesel und Schermbeck unterwegs war. Der Fahrer wird sich erschrocken haben, als der Wagen plötzlich einen größeren Vogel erfasste, der dabei starb.

Die Mitarbeiter des Straßenneubauamtes Wesel, die die B 58 betreuten, waren angehalten, vom Verkehr getötete Vögel aufzusammeln und mitzubringen. Das hatte Heinz Mildenberger (1913-1984), weithin bekannter rheinischer Ornithologe und Verfasser der zweibändigen „Vögel des Rheinlandes“ (1982/1984), durch seine gute Kontakte zu dem damaligen Mitarbeiter des Amtes Müller-Neuhöffer veranlasst.

Auf jeden Fall wurde der seltsame Vogel vom 16. Mai präpariert, und der Balg kam dann in die umfangreiche Sammlung des Landwirts Bernard Holland, die bis heute im Bislicher Museum (Kreis Wesel) aufbewahrt wird. Es war ein männliches Spießflughuhn (Pterocles alchata), das da auf der Straße lag.

Abb. 1-5 Balg des männlichen Spießflughuhns (Pterocles alchata); Fotos: Angelika Gerhardt

Heute muss man sagen: Überraschenderweise hat Mildenberger es in seine rheinische Avifauna aufgenommen (Band 1: 337), knapp hinter den beiden Brachschwalben-Arten. Aber anders als bei sicheren „Exoten“, die aus Vogelhaltungen entkommen oder freigelassen worden sind, wie zum Beispiel Trauerschwan (Cygnus atratus) oder Schwarzhalsschwan (C.melanocoryphus), hat Mildenberger das Spießflughuhn als „Ausnahmeerscheinung“ eingestuft.

Er hat den Balg auch einer Unterart zugeordnet, nämlich der südwesteuropäischen P. alchataalchata. Spießflughühner sind von Süd-Frankreich und der Iberischen Halbinsel (alchata)(Montero 2006) über Nordwest-Afrika (caudacutus) bis nach Kasachstan verbreitet (Bauer et. al. 2005, Cramp 1985).

Bauer et al. (2005) bezeichnen die westlichen Spießflughühner als Standvögel mit allerdings „nomadisierenden Wanderungen“, die in Nordafrika als sehr mobile „Regenfolger“ und die in Zentralasien als Zugvögel; ähnliche Darstellungen finden sich in „The Birds of the Western Palearctic“ (Cramp 1985). Sie sind also sehr wohl in der Lage, lange Flugstrecken zurückzulegen.

Seltsamerweise haben Bauer et al. (2005) die Angabe von Mildenberger nicht in ihr „Kompendium der Vögel Mitteleuropas“ aufgenommen, sondern im Abschnitt Spießflughuhn nur eine Angabe von einem im Dezember 1964 in Baden-Württemberg geschossenen Individuum, dessen Schwingen teilweise kupiert waren, das also definitiv aus einer Vogelhaltung stammte.

Im „Handbuch der Vögel Mitteleuropas“ (Glutz von Blotzheim 1977) wird erklärt, dass Spießflüghühner „bisher nicht in Mitteleuropa nachgewiesen“ seien. Allerdings konnten die Autoren den Vogel von Schermbeck noch nicht kennen, der ja erst durch Mildenbergers Buch 1982 öffentlich bekannt wurde.

In „Die Vögel Niedersachsens“ (Zang & Heckenroth 1986) gibt es zwar einen Abschnitt Spießflughuhn, aber nur um offenbar falsche Angaben aus dem 19. Jahrhundert zu korrigieren, bei denen es sich wohl um Verwechslungen mit dem Steppenhuhn (Syrrhaptes paradoxus) handelt.

Aus den benachbarten Niederlanden ist kein Nachweis bekannt (van den Berg & Bosman 1999, www.dutchavifauna.nl).

Eine Recherche im Internet ergab kürzlich, dass derzeit in Deutschland Spießflughühneroffenbar nur in einem einzigen Zoo gehalten werden (nämlich in Dresden)(www.zootierliste.de, aufgerufen am 10.2.2014). Auch bei Vogelhaltern sind Spießflughühner anscheinend nicht häufig anzutreffen. Im Februar 2014 hatte ein Züchter in der World Pheasant Association (WPA) welche in niederländischen Beesel bei Venlo aufgelistet (www.wpadeutschland.de, aufgerufen am 10.2.2014). Wie die Situation damals im Jahr 1972 war, lässt sich heute kaum noch rekonstruieren.

Ob das Schermbecker Spießflughuhn von 1972 tatsächlich – wie von Heinz Mildenberger eingestuft – ein verdrifteter Wildvogel war oder aus einer heute nicht mehr identifizierbaren Vogelhaltung stammte, wird sich jetzt wahrscheinlich nicht mehr sicher klären lassen. Vielleicht können nur Isotopenanalysen des Gefieders einen Hinweis auf die geografische Herkunft des Flughuhns bringen.

Die Einstufung des Spießflughuhns in die Kategorie E = „Aus Vogelhaltung entkommen/freigelassen“ in der bisher letzten deutschen Artenliste (Barthel & Helbig 2005) ist, wenn sie sich auf den Schermbecker Vogel beziehen sollte, eine Glaubensfrage.

Danksagung:

Mein besonderer Dank geht an Angelika Gerhardt für die phantastischen Fotos des Bislicher Spießflughuhns, die sie im November 2010 machen konnte, und an Helmut Klein, Klaus Hubatsch und vor allem Wolfgang Richard Müller für ihre sehr hilfreichen Auskünfte über die Arbeit von Heinz Mildenberger. Detlef Hunger schaute sich die Fotos sehr kritisch auf Hinweise auf Gefangenschaftshaltung an.

Literatur

Barthel, P. H. & A. J. Helbig (2005): Artenliste der Vögel Deutschlands. Limicola 19: 89-111.

Bauer, H.-G., E. Bezzel & W. Fiedler (2005): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas, Nonpasseriformes – Nichtsperlingsvögel. Wiebelsheim.

van den Berg, A. B. & C. A. W. Bosman (1999): Rare birds of the Netherlands. Utrecht.

Cramp, S. (Hg.) (1985): Handbook of the Birds of Europe, the Middle East and North Africa – The Birds of the Western Palearctic, Vol. IV. Oxford/New York.

Glutz von Blotzheim, U. (1977): Handbuch der Vögel Mitteleuropas, Band 7/2. Wiebelsheim.

Mildenberger, H. (1982): Die Vögel des Rheinlandes, Band 1. Düsseldorf.

Mildenberger, H. (1984): Die Vögel des Rheinlandes, Band 2: Düsseldorf.

Montero, J. A. (2006): Where to Watch Birds in Spain. Barcelona.

Zang, H. & H. Heckenroth (Hg.): (1986): Die Vögel Niedersachsens und des Landes Bremen – Tauben bis Spechtvögel. Naturschutz und Landschaftspflege in Niedersachsen, Sonderreihe B Heft 2.7.

www.dutchavifauna.nl

www.zootierliste.de

www.wpadeutschland.de

Anschrift des Verfassers:

Eckhard Möller

Stiftskamp 57

32049 Herford