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VdM 09/2014

Die Schwalbenmöwe von Münster

von Holger Lauruschkus

Es war ein Tag wie ich ihn schon oft erlebt habe in den Rieselfeldern, und eigentlich erwartete ich auch keine dramatische Wendung mehr. Ich stand am Abend des 25. Juli 2014 in der Beobachtungshütte an der Coermühle am Großen Stauteich (kurz E1 genannt). Mittlerweile hatte sich auch das Wetter wieder gebessert, nachdem es vormittags bis nachmittags doch recht ungemütlich war mit zeitweise längerem Regen. Jetzt aber schien schön die Abendsonne von hinten auf die Fläche und leuchtete die zahlreichen Vögel malerisch aus.

Neben mir war Gunnar Jacobs (Essen), und wir beobachteten gemeinsam das muntere Vogelgeschehen vor uns auf der größten offenen Flachwasserfläche des Gesamtgebiets. Jetzt gegen Abend ist es oft besonders interessant und lohnend an der E1, weil sich die Vögel für die Nacht hier sammeln oder die großen, offenen Schlammflächen für ein letztes Mal nutzen.

So auch heute: 500 Lachmöwen standen vor der Beobachtungshütte, darunter 1 diesjährige Schwarzkopfmöwe, 1 diesjährige Trauerseeschwalbe flog umher, 1 junger Löffler schlief bereits im Hintergrund und 12 Limikolenarten rannten und stocherten im Schlamm herum. Die Sonne neigte sich allmählich dem Horizont entgegen und langsam wurde auch das Licht schlechter. Bei den Vögeln passierte nichts Neues, die Möwen wurden ruhiger, Flugbewegungen fanden nur noch wenige statt, und auch die Limikolen verließen eine nach der anderen die Nahrungsflächen.

Aber als Vogelbeobachter hofft man ja bis zum letzten Licht! Gunnar Jacobs allerdings wollte die Zeit noch für einen kurzen Rundgang durch das Gebiet nutzen, um womöglich noch Nachtreiher oder Zwergdommel aufzutreiben. Ich blieb aber noch in der Hütte und wollte in ein paar Minuten  nachkommen, so der Plan. Doch es sollte ganz anders kommen! Ich schwenkte nochmal mit dem Spektiv über die Möwenschar vor mir, wie ich es in der letzten Stunde schon oft getan hatte. Man weiß ja nie. Mittlerweile war es 21.20 Uhr geworden und die Dämmerung setzte ein.

Und plötzlich stockte mir kurz der Atem: Mein Blick blieb bei einer kleinen, fast schwarzköpfigen Möwe hängen, viel kleiner als die umgebenden Lachmöwen, von denen auch nur noch wenige eine hellbraune Kopffärbung trugen. Sie schwamm ruhig etwas abseits von den übrigen Möwen. Diese Möwe war vorher garantiert nicht hier gewesen, die wäre mir sicher sofort aufgefallen, sie muss sich ungesehen erst kürzlich „angeschlichen“ haben! Bei ihrem Anblick dachte ich spontan an eine adulte Zwergmöwe im Prachtkleid.

Doch halt! Die Handschwingen waren doch schwarz mit markanten weißen Apikalflecken! Auch der Mantel erschien recht dunkel, auf alle Fälle dunkler als der der Lachmöwen. Das war keine Prachtkleid-Zwergmöwe! Die hat doch helle, weiße Handschwingen und einen vergleichsweise hellgrauen Mantel. Das musste eine der kleinen dunkelköpfigen Raritäten aus Nordamerika bzw. der arktischen Tundra Sibiriens oder Kanadas/Alaskas sein: Eine Schwalbenmöwe oder sogar Bonapartemöwe!

Die Schwalbenmöwe von Münster 25./26.Juli 2014.
Fotos: Gunnar Jacobs

Aufgeregt musterte ich jetzt nochmal intensiv die Möwe auf weitere artdiagnostische Merkmale durch. Der Schnabel erschien zunächst komplett dunkel, im selben Farbton wie die dunkelgraue Kapuze, eine hellere Spitze war nicht zu sehen. Das spräche ja für eine Bonapartemöwe! Sie schwamm jetzt etwas herum, präsentierte sich nun im besserem Licht von allen Seiten, und ich konnte bei genauerem Hinsehen nun eine etwas hellere Schnabelspitze ausmachen, nicht so auffallend wie bei Prachtkleid-Vögeln, aber schon zu erkennen. Zudem erschien das Auge dunkel ohne einen weißlichen Lidring, und die großen, weißen Apikalflecken auf den Handschwingen waren gut zu sehen.

Das war eine subadulte Schwalbenmöwe (Xema sabini)! Zweifel ausgeschlossen! Jetzt war Eile geboten, die Dämmerung schritt weiter voran. Ich musste Gunnar Jacobs, meinen Mitbeobachter, zurückrufen von seinem Rundgang und wenn möglich weitere Personen informieren. Ich schickte eine sms auch an Jörg Schröder, der nachmittags bei der an diesem Tag entdeckten Blauracke im NSG Lüsekamp bei Viersen weilte und nun auf dem Weg in die Rieselfelder war. Ich erreichte beide. Gunnar fiel aus allen Wolken und fast vom Glauben ab, als er von der Schwalbenmöwe erfuhr. Er war doch gerade erst noch dagewesen.  Aber so kann es kommen…

Ich behielt die ganze Zeit die Möwe im Auge und konnte sie beiden beim Eintreffen gleich präsentieren. Atemlos und freudig erregt beobachteten sie den Vogel noch im Dämmerlicht und es ließen sich sogar noch einige Belegfotos anfertigen. Gegen 21.50 Uhr flog ein großer Teil der Möwen schließlich auf und zog nach Norden in Richtung Reservat ab, irgendwo darunter auch die Schwalbenmöwe. Ob sie vielleicht morgen früh wieder hier ist?

Am nächsten Morgen, einem Samstag, waren Gunnar, Jörg und ich wieder vor Ort. Es war ein sehr schöner Sommertag. Neben uns und einem Besucher aus Hamburg waren keine weiteren Beobachter erschienen, obwohl Wochenende war und die besondere Beobachtung längst im Internet verbreitet worden war. Wir hatten mit mehr Zuspruch gerechnet (zumindest von lokalen Ornithologen), zumal eine Schalbenmöwe im Binnenland sicher nicht alltäglich ist. Wir konnten sie tatsächlich wiederfinden: Sie schwamm unter den Lachmöwen, putzte sich und flog sogar einige kurze Runden. Dabei war das markante und unverwechselbare schwarz-weiß-graue Oberflügelmuster gut zu sehen. Jetzt im besseren Licht als gestern Abend war auch eine Aufhellung der Schnabelspitze zu erkennen ebenso ein feines schwarzes Halsband am unteren Rand der dunkelgrauen Kapuze.

Wir bestimmten die Schwalbenmöwe abschließend als subadult, als Vogel im 2. Sommer (3. Kalenderjahr/K3) wegen der geringen Ausprägung der hellen Schnabelspitze. Es wurden wieder Fotos gemacht. Bis etwa 9 Uhr blieb die hübsche kleine Möwe auf der Fläche, dann auf einmal flog sie auf, gewann schnell an Höhe und zog im hohen Bogen nach Nord-Ost aus dem Gebiet ab. Im Laufe des Tages sind dann doch noch recht viele Beobachter gekommen. Bis zum Abend wurde sie leider aber von keinem Besucher mehr gesehen…

Diese Beobachtung stellt den dritten Nachweis für Münster und die Rieselfelder dar. Die Erste war am 17. August 1977 in den Rieselfeldern, adult im Ruhekleid (I. Rex/C. Sudfeldt) (WOG anerkannt, BSA anerkannt). Die Zweite dann am 8. August 2005 ebenfalls in den Rieselfeldern, adult im Prachtkleid (U. Eschmann, H. Lauruschkus) (DSK anerkannt).

Für NRW insgesamt sind seit 1827 17 Nachweise dokumentiert (Müller 2007), der bis dato letzte vom 22.-28. September 2011 vom Baggersee Königshütte/Hinsbecker Bruch (Kreis Viersen), adult Prachtkleid (K. Hubatsch, M. Hubatsch, D. Hubatsch, G. Sennert, L. Delling u.a.).

Alle Nachweise waren in den Monaten August bis Ende Oktober mit einem Peak im September: 5 im August (8.-31.8), 7 im September (3.- 28.9) und 3 im Oktober (2., 5., 29. 10.). Bei den beiden Nachweisen aus dem 19. Jahrhundert aus den Jahren 1827 und 1873 ist kein genaues Datum angegeben (Archiv Avikom/NWO).

Die aktuelle Beobachtung vom 25. Juli 2014 aus den Rieselfeldern Münster stellt den frühesten je in NRW erbrachten Nachweis dar. Er ist von der Avifaunistischen Kommission anerkannt worden.

Schwalbenmöwen sind hocharktische Möwen der Tundra, die hauptsächlich in Nordsibirien bis westlich Taimyr und in dem Küstenstreifen Nordkanadas und Alaskas brüten. Eine kleinere Population von 100- 200 Paaren besiedelt Nordostgrönland, einzelne Paare (max. 4) zeitweise Moffen Island bei Spitzbergen.

Ab Ende Juli/Anfang August verlassen die ersten Altvögel das Brutgebiet, die Jungvögel folgen einige Wochen später. Die nordamerikanischen und grönländischen Vögel ziehen quer über den Nordatlantik nach Südosten und erreichen Ende August bis Ende September/Oktober den Ostatlantik. Die Zugwege gehen weiter nach Süden über die Biskaya entlang der westafrikanischen Küste bis in die Winterquartiere vor der namibischen und südafrikanischen Küste.

Die Nordsee wird von der Masse der Schwalbenmöwen nur am Rande erreicht. Vor allem nach Nordweststürmen im September gelangen neben zahlreichen Einzelvögeln manchmal auch etwas größere Verbände in die deutsche Bucht, bereits sehnsüchtig erwartet von den Vogelbeobachtern an den Küsten oder auf den Inseln wie Sylt oder Helgoland. In der Regel werden Schwalbenmöwen sogar fast alljährlich in wechselnder Anzahl an der Nordseeküste beobachtet.

In das deutsche Binnenland werden die arktischen Gäste dagegen meistens nur nach starken Stürmen verdriftet und stellen hier Raritäten dar. Es ist ziemlich erstaunlich, dass für das küstenferne Westfalen immerhin 17 Schwalbenmöwen seit 1827 dokumentiert worden sind. Man darf sogar annehmen, dass die tatsächliche Zahl der Vögel sicher noch höher liegt, da nicht alle Möwen entdeckt worden sind. Vielleicht passieren sie sogar das Binnenland regelmäßiger als man denkt. Die Möwen sind oft sehr unstet, tauchen irgendwo auf, rasten für kurze Zeit an einer geeigneten Stelle und ziehen dann zügig weiter, ohne gesehen zu werden. Schwalbenmöwen sind auch im Binnenland mit etwas Glück durchaus mal zu erwarten, vor allem bei wechselhaften, stürmischen Wetterlagen mit Winden aus West oder Nordwest ab Mitte August und vor allem im September.

Der Vogel aus den Rieselfeldern am 25. Juli 2014 passte aber nicht so ganz in das erwartete Zugverhalten. Er erschien extrem früh bereits Ende Juli (normalerweise befinden sich da die Möwen noch im Brutgebiet), zudem herrschte am Beobachtungstag ruhiges, freundliches Wetter bei leichten Ostwinden. Die Großwetterlage im Juli war insgesamt von längeren Ostwindphasen bei allerdings wechselhaftem, zeitweise regnerischem Wetter geprägt. Trotzdem ist die Schwalbenmöwe erschienen. Bei derartigen Verhältnissen sind nicht unbedingt arktische Vögel aus dem Westen im tiefen westfälischen Binnenland zu erwarten. Die Vögel aus Ostsibirien ziehen hauptsächlich nach Südosten über die Beringstraße und den Nordpazifik in Richtung Alaska und Westkanada ab und erscheinen vermutlich extrem selten bis gar nicht Europa. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist der Vogel aus den Rieselfeldern Münster daher aus Kanada/Alaska oder Ostgrönland gekommen. Leider blieb er nur eine Nacht in Münster, am nächsten Morgen hat er sich wieder auf die Reise gemacht.

Für alle Beteiligten wird das Erlebnis Schwalbenmöwe in den Rieselfeldern Münster unvergesslich bleiben. Wann wird diese faszinierende kleine Möwe aus der Arktis wohl wieder hier auftauchen?

Danksagung :
Mein besonderer Dank gilt Eckhard Möller für die Zusammenstellung der Daten aus dem Archiv der AviKom der NWO.

Literatur:
Dierschke, J., V. Dierschke, K. Hüppop, O. Hüppop & K.F. Jachmann (2011): Die Vogelwelt der Insel Helgoland. Helgoland.
Müller, H. H. (2007): Sie kommen aus der Arktis und vom Atlantik – Schwalbenmöwen. Vogel des Monats Mai 2007. www.nwo-avi.com.
Olsen, K. M. & H. Larsson (2004): Gulls of Europe, Asia and North America. London.
Sibley, D. (2000): The North American Bird Guide. Mountfield.
Svensson, L., K. Mullarney & D. Zetterström (2011): Der Kosmos Vogelführer. Stuttgart.

Anschrift des Verfassers:

Holger Lauruschkus
Grevener Straße 351
48159 Münster