AviKom der NWO Rotating Header Image

VdM 11/2016

Der Gänsegeier von Brüllingsen

Von Marvin Fehn

Während meiner vierwöchigen Praktikumszeit im August 2016 bei der Arbeitsgemeinschaft Biologischer Umweltschutz (ABU) in Soest hatte ich eine Vielzahl von interessanten Aufgaben zu bearbeiten. Oft hatten diese einen feldornithologischen Hintergrund, was mich auch zu der seltenen Beobachtung am 22. August brachte.

Mit den eigentlichen Aufträgen, rastende Mornellregenpfeifer und Erntekontrollen auf Brutflächen des Wachtelkönigs zu kartieren, fuhr ich durch die Soester Börde, ohne erahnen zu können, welche Überraschung mich erwarten wird.
Gegen 11 Uhr fuhr ich Richtung Süden in die Nähe des Möhnesees, um dort nach dem Bearbeitungstand eines Getreidefeldes zu schauen. Plötzlich entdeckte ich einen ungewöhnlich großen, braunen Vogel auf einem  abgeernteten Acker, westlich der Straße, die die beiden Orte Herringsen und Brüllingsen miteinander verbindet.

Abb. 1,2 Der Gänsegeier von Brüllingsen 22. August 2016. Fotos: Marvin Fehn

Abb. 3,4 Der Gänsegeier von Brüllingsen 22. August 2016. Fotos: Axel Müller

Da der Vogel Luftlinie etwa 600m abseits der Straße ruhte, war er auch mit dem Fernglas nicht einwandfrei zu bestimmen. Erst mit dem Spektiv konnte ich das langhalsige Tier einwandfrei als Gänsegeier (Gypus fulvus) identifizieren. Meine Überraschung war dementsprechend groß, mit dieser Entdeckung hatte ich niemals gerechnet.

Die Witterung war an diesem Tag für Thermiksegler nicht optimal. Bei etwa 15 Grad Celsius, leichtem Wind und Regen rastete der Gänsegeier für eine Stunde auf dem Feld und trocknete sein Gefieder. Mithilfe eines Digiskopieraufsatzes gelangen durch das Spektiv auch ein paar brauchbare Bilder (Abb. 1, 2), auf denen sich der Geier als Jungvogel herausstellte, was an dem dunklen Schnabel und der hellbraunen Halskrause zu erkennen war.

Nach der Ankunft einiger ABU-Mitarbeiter, die ich eiligst angerufen hatte, sowie der Ornithologen Axel Müller und später auch Wolfgang Pott flog der Geier um etwa 12.10 Uhr wenige Hundert Meter weiter Richtung Norden und landete, erneut auf einem Getreidestoppelacker. Zusammen mit 10 Kolkraben schien er dort an einem Kadaver zu fressen. Auch ist hier die Größe des Gänsegeiers deutlich geworden: Er wirkte neben den größeren Kolkraben mit einer Spannweite von bis zu 130 cm (Svensson 2011) riesig. Diese blieben von dem Kontakt mit dem Geier weniger  beeindruckt und störten ihn beim Fressen mit zaghaftem Zupfen an den Schwanzfedern.

Auf den guten Fotos von Axel Müller (Abb. 3, 4) stellte sich anschließend heraus, dass es sich um einen Wildvogel im 2. Kalenderjahr handeln musste, der keine Beringung aufwies.

Schlussendlich war die Beobachtung eine besondere Ergänzung zu den vier spannenden Wochen, die ich bei der ABU Soest verbracht habe und speziell für mich ein außergewöhnlicher  Moment, den ich mit diesem faszinierenden Vogel erleben durfte.

Auftreten in Deutschland

Bei adulten Gänsegeiern handelt sich hauptsächlich um Standvögel, die im Umkreis von bis zu 60 km von ihrem Niststandort nach Nahrung suchen (Mebs & Schmidt 2006). Interessant zu betrachten ist die Eigenschaft von Jungvögeln, weitaus größere Wanderungen machen. So verbringen viele nicht geschlechtsreife Vögel die Wintermonate einige 1000 km entfernt in Zentralafrika. Bei den in Deutschland während des Sommers auftretenden Gänsegeiern handelt es sich wohl meistens um nichtbrütende oder nicht geschlechtsreife Vögel aus den Vorjahren (Mebs & Schmidt 2006). In diese Kategorie passt auch der hier geschilderte Fall. Zu klären wäre schließlich die Frage, aus welchen Brutgebieten die beobachteten Gänsegeier im Hochsommer stammen und welche Wanderungen von ihnen zurückgelegt werden.

Bestand

Der Bestand des Gänsegeiers gilt in Mitteleuropa als ungesichert, mit enormem Schutzaufwand in Spanien und Wiederansiedlungen in  Frankreich steigt er jedoch teilweise wieder stark an. Mebs & Schmidt (2006) geben für die Westpaläarktis circa. 25.000 Brutpaare an. Negative Entwicklungen spielen sich dagegen im restlichen Mittelmeerraum, in Nordwestafrika und in Vorderasien ab. So sind 90 Prozent des Gesamtbestandes der Westpaläarktis in Spanien zu finden (Mebs & Schmidt 2006).

Gefährdungen

Der Bestandsrückgang der europäischen Gänsegeier begann bereits in den vergangenen Jahrhunderten, in denen sich das Brutgebiet der Art stark verkleinerte (Mebs & Schmidt 2006). In der Vergangenheit spielten vor allem fehlende Nahrungsgrundlagen in Form von Aas eine entscheidende Rolle. So hat beispielsweise die Wanderviehhaltung stark abgenommen, wodurch immer weniger Kadaver für die Geier zur Verfügung stehen. Aufkommende konsequente  Hygienevorschriften verstärken ebenfalls diesen Prozess  (Mebs & Schmidt 2006).
Weitere schwerwiegende Folgen, nicht nur für die Populationen der Gänsegeier, gehen von Vergiftungen durch Pestizide und weiteren Umweltgiften aus (www.4vultures.org). Im Jahr 2014 wurde von der Europäischen Kommission auch der Arzneistoff Diclofenac zur Behandlung von Nutztieren in der Landwirtschaft genehmigt. Dieses Mittel hat in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Zusammenbruch der Geierpopulationen in Indien geführt.

Gänsegeier in Nordrhein-Westfalen

In NRW sind seit 2006 in jedem Jahr Gänsegeier beobachtet und dokumentiert worden. Insgesamt waren es bis heute 28 anerkannte Nachweise mit insgesamt 91 Individuen (Archiv der AviKom). Das ist eine Entwicklung, die noch vor weniger als zwanzig Jahren für die Ornithologen in unserem Land unvorstellbar war…

Danksagung: Für die Hilfe bei der Erstellung des Textes in Form von Bereitstellung von Literatur, den Bildern und weiteren interessanten Informationen zum Thema danke ich der ABU Soest, Alexander Heyd, Axel Müller und Herbert Zucchi.

Literatur

Mebs, T. & D. Schmidt (2006): Die Greifvögel Europas, Nordafrikas und Vorderasiens – Biologie, Kennzeichen, Bestände. Stuttgart.

Svensson, L., K. Mullarney & D. Zetterström (2011): Der Kosmos Vogelführer: Alle Arten Europas, Nordafrika und Vorderasiens. Stuttgart.

Vulture Conservation Foundation: Griffon vulture (Gypus fulvus)
http://www.4vultures.org/vultures/griffon-vulture/
aufgerufen am 27.10.2016