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VdM 03/2017

Der Steppenadler von Tuppenend

Von Helmut P. Klein

Am 19. August 2016 war die Brutzeit für viele Vogelarten bereits abgeschlossen. Ein Großteil der Brutgäste hatte bereits den Wegzug in ihre Überwinterungsgebiete angetreten. Von durchziehenden Vogelarten war nur wenig zu bemerken, die meisten potentiellen Rastgewässer für Wasser- und vor allem Watvögel waren mangels Niederschlägen ausgetrocknet.

An diesem Sommertag habe ich mal wieder eine meiner Radtouren durch die Niers-Niederung im Kreis Viersen unternommen. Nur wenige Limikolen und ein paar späte Brutvögel konnte ich beobachten. Kurz nach Mittag befand ich mich aufgrund der geringen „Ausbeute“ schon auf dem Heimweg. Gerade erreichte ich den Ortteil Tuppenend in der Gemeinde Viersen-Süchteln. Ein Landwirt entsorgte auf einem abgeernteten Acker seine Gülle. Offensichtlich waren durch dieses Monstergespann auf dem Feld sitzende Vögel aufgescheucht worden. Ich stieg von meinem Drahtesel, um sie mir anzusehen. Wie schon so oft beobachtet, dachte ich, na ja Rabenkrähen verfolgen und ärgern einen Mäusebussard. Aber nicht so, die drei bis vier Rabenkrähen entpuppten sich beim Blick durch das Fernglas als Mäusebussarde, und der „Mäusebussard“ war riesig.

Nordrhein-Westfalens erster Steppenadler: Kreis Viersen 19.8.2016.
Fotos: Helmut Klein

Es war sofort klar, es handelt sich bei dem Verfolgten um einen Adler. Ein Geier wäre so kurz nach dem Start und nur wenige Meter über dem Boden kaum in der Lage so geschickt und elegant den Attacken der Mäusebussarde auszuweichen. Also ein Adler, ein mittelgroßer Adler, der ohne Unterlass von den Mäusebussarden bedrängt wurde.

Nun, was tue ich zuerst? Ich griff zu meinem Handy und rief um Hilfe bei ortsansässigen Ornithologen. Fast gleichzeitig holte ich meine gut verpackte Kompaktkamera aus der Satteltasche und machte sie startklar. Der Großgreif in dem kleinen Sucher zu finden und ihn auch noch einigermaßen scharf ablichten zu können war schwierig. Nach jedem Bild musste ich neu nach dem Greif suchen, scharf stellen und so weiter.

Die Greifvögel hatten schnell eine Höhe von 80 bis 100 Metern erreicht. Der Adler kreiste nun fast senkrecht über mir und gewann fast ohne Flügelschlag stetig an Höhe, die Mäusebussarde im Schlepptau. Nur wenige Minuten, drei, vier oder vielleicht fünf, und der Adler war so hoch, dass ich ihn mit bloßem Auge nicht mehr sehen konnte. Wohin er wegzog, konnte ich nicht mehr beobachten. Keiner der herbeigerufenen Ornithologen hätte es in der Kürze der Zeit geschafft, vor Ort zu sein. Was blieb, waren meine Beobachtungseindrücke und ein halbes Dutzend Bilder.

Es war ein Adler. Es war ein mittelgroßer Adler. Das Flugbild war etwa ein Drittel größer als das der Mäusebussarde (Mäusebussard ca. 130 cm : Adler ca. 195 cm Spannweite). Der Fischadler schied sofort aus, ebenso die kleineren Adlerarten wie Zwergadler, Habichtsadler, Schreiadler und Schlangenadler aufgrund der kaum größeren Spannweite im Vergleich zum Mäusebussard und der markant abweichenden Färbung.

Auch der Seeadler mit seiner bis zu 240 cm Spannweite blieb außen vor. Länger dachte ich über den Schelladler nach, der aber hat eher dunklere Flügeldecken zum Vergleich mit seinen Schwungfedern. Nach meiner Einschätzung handelte es sich um einen noch nicht adulten Vogel. Steinadler im gleichen Alter haben eine dunkle Schwanzendbinde und einen weißen Schwanz sowie weiße Flecken auf den Schwungfedern.

Wohl das markanteste Merkmal des beobachteten Adlers war eine deutlich erkennbare Trennlinie zwischen den Flügeldecken und den Schwungfedern, die weder Steinadler, Kaiseradler noch Savannenadler zeigen. Nach diesem Ausschlussverfahren bleibt nur noch der Steppenadler (Aquila nipalensis) übrig, und in der Tat zeigt diese Art in den ersten Lebensjahren diese markante Trennlinie zwischen den Flügeldecken und den Schwungfedern, und er erreicht mit 190 cm Flügelspannweite in etwa die geschätzte Größe im Vergleich zu den mitfliegenden Mäusebussarden. Auf einem der Bilder kann man darüber hinaus den langen Schnabelwinkel erkennen, der bis zum Hinterrand des Auges reicht, was ein kennzeichnendes Artmerkmal der Steppenadler ist.

Meines Wissens handelt es sich um den ersten Nachweis eines Steppenadlers in Nordrhein-Westfalen –  und ich bin erleichtert, dass ein paar wenige Belegfotos in der Kürze der Beobachtungszeit gelangen. Auch in Mitteleuropa gilt die Art als extrem selten, aus den zurückliegenden Jahrzehnten wurden erst fünf Beobachtungen aus Deutschland anerkannt.

Die osteuropäische und asiatische Adlerart überwintert in Afrika und zieht im Herbst in großer Zahl östlich des Mittelmeers nach Ost- und Südafrika. Ein extrem seltenes Abweichen von der regulären Flugroute ist nicht ganz auszuschließen, andererseits ist das Entkommen aus in Gefangenschaft gehaltenen Steppenadlern durchaus realistisch. Da bei dem beobachteten Adler kein Ring zu erkennen war, muss die Frage nach der Herkunft möglicherweise offen bleiben.

Anzumerken bleibt, dass am Tag zuvor ein ebenfalls junger Steppenadler in Belgien nahe Charleroi etwa 160 km südwestlich beobachtet und fotografiert wurde (www.waarnemingen.be). Man kann davon ausgehen, dass es dasselbe Individuum war.

Die Nachsuche nach dem seltenen Gast blieb im Kreis Viersen bis auf einen nicht sicheren Verdacht erfolglos.

Der Steppenadler von Tuppenend wurde von der Avifaunistischen Kommission der NWO als erster Nachweis für Nordrhein-Westfalen anerkannt (www.nwo-avi.com). Die Deutsche Avifaunistische Kommission (DAK) wird sich diesem Votum anschließen.

Danksagung: Bei der Auswertung der Fotos am Rechner halfen mir dankenswerterweise Jürgen W. Schwirk und Klaus Hubatsch.

Literatur:

Forsman, D. (2016): Flight Identification of Raptors of Europe, North Africa and the Middle East. London.

www.nwo-avi.com

www.waarnemingen.be

Anschrift des Verfassers:
Helmut P. Klein
Florastr. 29
41334 Nettetal