VDM 11/2009
Der Tienschan von Bornheim-Brenig
Von Michael Kuhn
Da war wieder dieser ungewöhnliche Ruf. Er passte so gar nicht in die Winterzeit. Er war schon ein paar Tage lang – mindestens seit dem 18. Februar 1992 – immer wieder mal zu hören in dem verwilderten Garten am Nordosthang des Vorgebirges in lockerer Dorfbesiedlung von Bornheim-Brenig im Rhein-Sieg-Kreis. Hans Weiser, Greifvogel-Spezialist, wohnte direkt auf dem Nachbargrundstück. Ihm fiel der seltsame Laut auf, und natürlich versuchte er, den Vogel zu sehen.
Am 29. Februar entdeckte er dann endlich den Rufer, einen kleinen Laubsänger mit einer Flügelbinde, der immer sehr agil im Gebüsch aktiv war. Nach der zur Verfügung stehenden Literatur bestimmte er den ihm unbekannten Vogel als Grünlaubsänger, und da kam ihm zu Bewusstsein, dass das etwas Besonderes war. Am 2. März rief er mich dann abends an.
Am nächsten Morgen war ich sofort zur Stelle. Beim ersten Versuch sah ich den kleinen Vogel nur zweimal kurz. Wegen seiner breiten Flügelbinde und der gesäumten Schirmfedern hatte ich schon einen Verdacht, aber erst intensives Studium der Bücher zu Hause erhärtete ihn. Nachmittags war ich dann mit Wolfgang Stickel wieder vor Ort in Brenig.
Der Vogel saß nicht eine Sekunde still. Deshalb waren die wichtigen Merkmale nicht leicht zu erkennen: Er wirkte für einen Laubsänger klein, Mantel, Schultern und Flügeldecken graubraunoliv, Oberkopf graubraun, Bürzelbereich leicht aufgehellt (kurz bei einem Rüttelflug gesehen), Unterschwanzdecken weiß, restliche Unterseite einheitlich weißlich(grau) verwaschen. Überaugenstreif breit durchlaufend, an Stirn und Ende der Ohrdecken etwas verjüngend, weißlich – nicht so markant, da seine Umgebung nicht dunkel abgesetzt war.
Der Endsaum der Großen Armdecken bildete eine breite weißliche Flügelbinde. Etwa gleich- bis anderthalbmal so breit wie der Flügelstreif war darunter deutlich der dunkle Schattenstreifen der Armschwingenbasen zu erkennen. Im Fernglas glaubten wir die Andeutung eines zweiten Flügelstreifs im Bereich der Mittleren Armdecken erkannt zu haben. Die Handschwingen waren schmal blassgelbgrün gesäumt. Die dunklen Schirmfedern waren zwar nur relativ schmal, aber deutlich weißlich gesäumt.
Die Beine waren dunkelbraun, auch der Schnabel wirkte dunkel.
Der kleine Hektiker war sehr ruffreudig: Laut, zweisilbig (die Silben ineinander fließend), am Ende abfallend „tsilü“, treffender „ssih(l)jüh“ – von wenigen Einzelrufen bis zu 42mal pro Minute, der Stimmfühlungsruf. Nur ganz selten mal morgens einzelne „biss“-Laute vielleicht 10mal insgesamt, der merkwürdige Gesang.
Jetzt waren wir uns ganz sicher, einen ganz besonders weit gereisten Vogel vor uns zu haben, nämlich einen Tienschan-Laubsänger (Phylloscopus humei), der damals oft noch als Unterart des Gelbbrauen-Laubsängers („Ph. inornatus humei“) betrachtet wurde.
Der Tienschan von Bornheim
März 1992
Fotos: Norbert Wittling
Die oben genannten Merkmale konnten wir durch unsere Ferngläser und einmal kurz im Spektiv erkennen. Ein paar Einzelheiten haben dann später die vorzüglichen Fotos von Norbert Wittling preisgegeben. Das Erstaunlichste war die Beinfarbe, die auch niemand der vielen Zeugen so in der Natur gesehen hatte: Die Zehen und das untere Viertel des Tarsus waren gelbbraunorange. Das Basisdrittel des Unterschnabels war gelblich aufgehellt. Der zweite Flügelstreif der Mittleren Armdecken war tatsächlich vorhanden, aber sehr kurz, sehr schmal und ohne dunklen Parallelstreif. Die Ohrdecken hatten nach unten keine Begrenzung. Ein Zügelstreif fehlte. Der Augenstreif war etwa zwei Drittel so breit wie die sichtbare Iris hoch und auffallend kräftig schwärzlich. Der Überaugenstreif wurde an der Stirn zwar dünn, war dort aber umlaufend.
Am 4. April wurde der Tienschan-Laubsänger zum letzten Mal von Herrn Weiser gehört. Er hatte sich also mindestens 6 Wochen lang in dem Garten in Brenig aufgehalten und offenbar gut und ausreichend ernährt. Obwohl es noch keine Mobiltelefone oder das Internet und blitzartige E-Mail-Verbindungen gab, konnten wir die Nachricht recht schnell in der rheinischen Vogel-Szene verbreiten. Insgesamt waren sicher über 20 Beobachter dort, darunter Klaus Hubatsch (Nettetal), Axel Müller (Wuppertal), Reiner Petersen (Siegburg) und andere. Norbert Wittlings Fotos halfen sehr bei der Detailarbeit, für deren Erfolg er mehrere Stunden unter einer Spalierreihe von Garten-Brombeeren lag. Winfried Toedt gelang es, die Rufe auf Tonbandaufnahmen zu sichern.
Diese im Aussehen so unscheinbare Rarität mit dem aufregend exotisch klingenden deutschen Namen hat immer wieder mal meine Fantasie beflügelt: Solche normalen Allerweltsgärten gibt es vermutlich in Deutschland mehrere Millionen Mal. Wieviele tausend Tienschan-Laubsänger mögen darin jeden Winter umherturnen, ohne dass ein ornithologisch gepolter Nachbar – sich am Hinterkopf kratzend – darauf aufmerksam wird?
Es wird immer Theorie bleiben, aber so unrealistisch ist die Sache wohl nicht, wenn selbst Trupps von 50 Gänsegeiern bei uns nur ein einziges Mal und danach nie wieder gesehen werden!
Der Tienschan-Laubsänger von Bornheim-Brenig war der erste in Nordrhein-Westfalen und erst der zweite in Deutschland (im November 1990 ging auf Helgoland der erste in Deutschland in die Netze). Er wurde damals von der Seltenheitenkommission der Gesellschaft Rheinischer Ornithologen (GRO) und später von der Deutschen Seltenheitenkommission anerkannt (DSK 1994). Seitdem ist in NRW trotz der stark angewachsenen Zahl der Beobachter kein weiterer „Tienschan“ mehr entdeckt worden.
Es wird also höchste Zeit für den nächsten…
Literatur
Deutsche Seltenheitenkommission (1994): Seltene Vogelarten in Deutschland 1991 und 1992. Limicola 8: 153-209.
Anschrift des Verfassers:
Michael Kuhn
Bonner Ring 54
50374 Erftstadt