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VdM 12/2014

Der Grasläufer vom Haarkamm in Ense

Von Wolfgang Pott

Am 16. September 2013 besuchte ich wieder einmal die weiträumig offene Feldflur des Haarkamms in Ense (Kreis Soest), um nach dort regelmäßig rastenden Mornellregenpfeifern zu suchen. Gegen 9.30 Uhr bemerkte ich auf einem abgeernteten, vegetationsarmen und stellenweise feuchten Kartoffelacker einen Vogel, der bereits im Fernglas durch sein ungewöhnliches Verhalten auffiel, das mich in den ersten Momenten – jeweils von vorne betrachtet – kurz an einen Steinschmätzer (geringe Größe!) und dann an einen juvenilen Mornellregenpfeifer denken ließ.

Der auf der Kuppe der Haar bei Vierhausen (230 m NN) rastende Sonderling zeigte anschließend jedoch alsbald die folgenden diagnostischen Kennzeichen eines Grasläufers Tryngites subruficollis, die in Kombination mit der arttypischen Form der Fortbewegung am Boden und weiteren Merkmalen im Flug eine Verwechslung mit allen ähnlichen Arten ausschließen. Zu den Verwechslungsarten gehören zum Beispiel weibliche Kampfläufer im Jugendkleid und der in Deutschland noch seltenere Bairdstrandläufer Calidris bairdii.

Beschreibung

Verhalten: Die kleine Limikole rannte zunächst mehrfach ähnlich einem Steinschmätzer oder Mornellregenpfeifer kurze Strecken schnell über den Acker, um dann abrupt zu stoppen und den gesamten Körper aufzurichten. Anschließend „erstarrte“ der Vogel längere Zeit in dieser gestreckten Haltung – offenbar sichernd – mit „langem“ Hals. Daneben zeigte der Grasläufer auch mehrfach eine deutlich entspanntere und langsamere Art der Nahrungssuche mit relativ hoher Pickfrequenz am Boden. Er lief dabei mit angehobenem, waagrecht gehaltenem Tarsus –  wie „vorsichtig die Füße hebend“ – und zeigte währenddessen ein eigentümliches, fast taubenähnliches, etwas ruckartiges Kopfnicken.

Struktur: Eine insgesamt in vielerlei Hinsicht eher an einen kleinen Regenpfeifer als an einen, oberflächlich betrachtet, ähnlichen Kampfläufer erinnernde Limikole von der Größe eines Alpenstrandläufers oder Flussuferläufers. Der Kopf wirkte klein und rundlich (und zuweilen fast quadratisch), statt eher flachköpfig mit länglichem Profil wie beim Kampfläufer. Der komplett schwarze Schnabel war gerade, eher dünn und kürzer als oder maximal so lang wie der Kopf, statt mindestens kopflang und an der Spitze leicht abwärts gebogen wie der des Kampfläufers. Besonders von der Seite betrachtet erschien die Brust voll, die mittellangen Beine leuchteten hellgelb. Relativ große Handschwingenprojektion (beim Kampfläufer gering durch lange Schirmfedern).

Ober- und Unterseite: Vor allem Kopfseiten, Hals und Brust wirkten ungezeichnet warm gelblich-ocker bis hell beigebraun, Bauch und Steiß eher weißlich; die Brustseiten waren vor dem Flügelbug deutlich dunkel gepunktet (nicht gestrichelt). Der Vogel hatte keinen Überaugenstreif, Stirn und Scheitel zeigten eine feine dunkle Längsstrichelung. Das groß wirkende, dunkle Auge wurde eingerahmt – und deshalb noch betont – durch einen hellen „Augenring“ (weißer Lidring nicht erkennbar) und einen vor dem Auge liegenden, halbmondförmigen, dunklen Fleck. Der Zügel präsentierte sich dagegen ungemustert hell, die Befiederung der Schnabelbasis reichte am Unterschnabel weiter in Richtung Schnabelspitze als auf dem Oberschnabel.

Die kontrastreich gezeichnete Oberseite zeigte eine gleichmäßig saubere Schuppenzeichnung (offensichtlich Jugendkleid) durch schwärzliche Zentren der rundlichen Schulterfedern mit schmalen weißlichen Säumen. Altvögel zeigen dagegen auch verlängerte und spitzere Schulterfedern, Oberarmdecken und Schirmfedern mit breiter gelbbraunen bis rötlichen Säumen und wirken daher durch eine oberseits unregelmäßigere Zeichnung „gefleckter“. Große und Mittlere Armdecken wirkten blasser und weniger kontrastreich gezeichnet, die Schirmfedern dagegen schwärzlich mit schmalen weißen Säumen. Der Grasläufer zeigte weder ein „Mantel-V“ noch die häufig kammartig gesträubten Mantelfedern des Kampfläufers bei der Nahrungssuche.

Flugbild: Die sehr schnelle Flugweise des Grasläufers ohne Gleitphasen wirkte rasant und unstet und erinnerte wieder eher an einen kleinen Regenpfeifer als an einen meist träger fliegenden Kampfläufer. Abrupte kleine Richtungsänderungen beim flachen Abflug erzeugten eine entfernte Ähnlichkeit mit „himmelnden“ Bekassinen oder Temmincks Calidris temminckii. Die gesamte Oberseite erschien im Flug einfarbig bräunlich ohne helle Abzeichen (z. B. ohne auffälligen Flügelstreif). Besonders Oberschwanzdecken und Bürzel waren einheitlich dunkel ohne das Schwarz-Weiß-Muster des Kampfläufers gefärbt, der dort durch einen schwarzen Keil getrennte, weiße, längsovale Felder zeigt. Ähnliches gilt für alle Strandläuferarten mit (schwarz geteilten) weißen Oberschwanzdecken wie z. B. dem recht ähnlichen Bairdstrandläufer, der zudem keine gelben, sondern dunkle Beine hat. Auffallend war ein recht deutlicher Kontrast zwischen weißen Unterflügeln und dunklerer Körperunterseite. Während des reißenden Flugs nicht erkennbar waren die diagnostischen halbmondförmigen Flecken auf den Großen Unterhanddecken.

Der Grasläufer flog gegen 9.42 Uhr zunächst stumm und flach nach Nordwesten ab, bevor er, seinen Kurs korrigierend, nach Südosten auf mich zusteuerte und dabei einmal gedämpft und leise wie „grrit“ rief (ähnlich mehreren Strandläuferarten). Anschließend zog der seltene Gast in einer Höhe von 50-100 Metern über den Windpark Ruhne – und weiter an Höhe gewinnend – weit nach Südsüdosten ab und war gegen 9.45 Uhr außer Sichtweite verschwunden. Das Warten auf eine mögliche Rückkehr bis 10 Uhr und eine weitere Kontrolle des Rastplatzes um 11.30 Uhr blieben leider ohne Erfolg.

Der Grasläufer am Haarkamm wurde von der Avifaunistischen Kommission der NWO als dritter Nachweis dieser nordamerikanischen Limikolenart in Nordrhein-Westfalen anerkannt (www.nwo-avi.com). Die beiden ersten Beobachtungen betrafen je einen Vogel vom 9.-11. September 1970 in der Kläranlage Kamen (Kreis Unna) und am 5. Mai 2006 in den Rieselfeldern Münster (Kühnapfel 2008).

Verbreitung und Weltbestand

Das Brutvorkommen dieses nearktischen Watvogels beschränkt sich auf einen relativ kleinen Teil der amerikanischen Arktis vom nördlichen Alaska bis nach Zentralkanada und in geringer Zahl auf einen Küstenstreifen Nordost-Sibiriens um die Wrangelinsel, wo die bevorzugten Brutplätze in der trockenen, grasigen Tundra im Landesinneren zu finden sind. Die Winterquartiere dieses Langstreckenziehers liegen in den Pampas Südamerikas von Peru über Zentralargentinien bis nach Paraguay und Uruguay. Während der offenbar nur schwer zu erfassende Weltbestand Anfang der 1990er Jahre auf 25.000, nach neueren Flyway-Zählungen auf 15.000 und um 2010 auf 16.000-84.000 Individuen beziffert wurde, dürften im 19. Jahrhundert noch mehr als eine Million Grasläufer nach Südamerika gezogen sein. Als Hauptrückgangsursachen werden die lange Zeit rücksichtlose Jagd auf die oft zutraulichen Vögel bis an den Rand der Ausrottung und die Umwandlung großer Teile der Prärie und Pampa in den Durchzugs- und Überwinterungsgebieten in Ackerland gesehen (Samwald & Samwald 2011, Radomski 2009, Bauer et al. 2005, Delany & Scott 2002, Glutz et al. 1984).

Vorkommen in Westeuropa

Bemerkenswert ist, auch angesichts des kleinen Weltbestands, das in erstaunlicher Zahl alljährliche Auftreten des Grasläufers in Großbritannien und Irland, wo die Art nicht als Seltenheit gilt und mit 680 nachgewiesenen Vögeln alleine von 1958-1982 die zweithäufigste nearktische Limikole nach dem Graubrust-Strandläufer Calidris melanotos darstellt. Während dort durchschnittlich 25 Individuen pro Jahr auftreten (und zwar ganz überwiegend juvenile im September), wurden im Jahr 2011 sogar 165 Grasläufer erfasst, darunter ein Trupp aus stolzen 28 Vögeln (Vinicombe et al. 2014, Bauer et al. 2005, Barthel 1993).

Im übrigen Westeuropa werden derart hohe Jahressummen zwar bei weitem nicht erreicht, in den benachbarten Niederlanden liegen zwischen 1955 und 2014 aber beachtliche 75 anerkannte Nachweise vor, von denen 71 seit 1984 erbracht worden sind. Der Grasläufer wurde deshalb von der niederländischen Kommission CDNA zum 1.1.2015 von der Liste dokumentationsbedürftiger Arten gestrichen, da das Kriterium „im Mittel weniger als zwei Nachweise pro Jahr in den vergangenen 30 Jahren“ nicht mehr erfüllt ist (van Rijswijk & van Duivendijk 2014, www.dutchavifauna.nl).

Abb. 1/2 Grasläufer Dithmarscher Speicherkoog 14.8.2013

Foto: Ole Krome

Abb. 3 Grasläufer Greifswald 14.10.2013

Foto: Jonas Kotlarz

Grasläufer in Deutschland

Bis einschließlich 2012 wurden immerhin auch 44 Nachweise der Art in Deutschland von den jeweils zuständigen Kommissionen anerkannt, von denen 35 während des Wegzugs zwischen dem 17. Juli und 19. Oktober gelangen. In der Wegzugsperiode wurden fast alle Altvögel im Juli und August bestimmt, der früheste Jungvogel erschien am 20. August, und von September bis Oktober folgten fast ausschließlich Juvenile mit einer Häufung in den Küsten-Bundesländern (Samwald & Samwald 2011, Deutsche Avifaunistische Kommission [DAK] 2013).

Radomski (2009) führt alleine 16 Feststellungen mit 24 Individuen von 1966 bis 2002 in Schleswig-Holstein auf, von denen (seit 1976) 10 Nachweise mit 13 Vögeln durch den Bundesdeutschen Seltenheitenausschuss (BSA) und die Deutsche Seltenheitenkommission (DSK) anerkannt wurden. Mehr als 50 %  dieser insgesamt 24 Grasläufer, und damit wohl fast ausschließlich Diesjährige, waren im September am Rastgeschehen beteiligt. Bereits in den 1980er Jahren wurde eine „Dithmarscher Rastplatztradition“ postuliert (BSA 1991), die bei acht anerkannten Nachweisen zwischen 2007 und 2012 in den Kreisen Dithmarschen und Nordfriesland möglicherweise weiterhin besteht (DSK 2009, DAK 2013, www.dda-web.de).

Ausblick für Nordrhein-Westfalen

Grasläufer können während der Zugzeiten selbstverständlich auch an Limikolen-Rastplätzen in Feuchtgebieten auftreten und dort mit anderen Watvögeln vergesellschaftet sein (wie die Nachweise in Kamen und Münster belegen). Die Art bevorzugt aber kurzrasige Habitatstrukturen wie frisch gemähte Wiesen, Weiden und Trockenrasen, Golfplätze, Flughäfen sowie z. B. abgeerntete (Brach-) Ackerflächen, wo sie leicht übersehen werden kann (Bauer et al. 2005, Barthel 1993).

Da die Beobachterdichte um solche Habitate außerdem oft relativ gering und die Bestimmung dieser kleinen Limikole nicht ganz unproblematisch ist (besonders der großen Variabilität des Kampfläufers wegen), werden bei uns vermutlich (deutlich) mehr Vögel übersehen als entdeckt und erkannt. Der Grasläufer am Haarkamm in Ense sollte deshalb nicht der letzte in Nordrhein-Westfalen gewesen sein.

Literatur

Barthel, C. (1993): Rätselvogel 33: Grasläufer Tryngites subruficollis. Limicola 7: 49-52.

Bauer, H.- G., E. Bezzel & W. Fiedler (2005): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas. Nonpasseriformes – Nichtsingvögel. Wiesbaden, 2. Auflage.

Bundesdeutscher Seltenheitenausschuss (1991): Seltene Vogelarten in der Bundesrepublick Deutschland 1989 (mit Nachträgen 1977 bis 1988). Limicola 5: 186-220.

Delany, S. & D. Scott (2002): Waterbird Population Estimates, 3. edition. Wetlands International Global Series 12. Wageningen, Niederlande.

Deutsche Avifaunistische Kommission (2013): Seltene Vögel in Deutschland 2011/12. Dachverband Deutscher Avifaunisten, Münster.

Deutsche Seltenheitenkommission (2009): Seltene Vogelarten in Deutschland von 2006 bis 2008. Limicola 23: 257-333.

Glutz von Blotzheim, U., K. Bauer & E. Bezzel (1984): Handbuch der Vögel Mitteleuropas, Band 6, Charadriiformes (1. Teil). Wiesbaden.

Kühnapfel, K.-H. (2008): Vogel des Monats: Februar 2008. Er kam aus Amerika: Der Grasläufer. Charadrius 44: 42-43.

O’Brien, M., R. Crossley & K. Karlson (2006): The Shorebird Guide. Houghton Mifflin, New York.

Radomski, U. (2009): Seltene Vogelarten in Schleswig-Holstein und Hamburg. Vogelwelt Schleswig-Holsteins, Bd. 6. Neumünster.

Samwald, O. & R. Samwald (2011): Fotofolge 24: Die Gruppenbalz des Grasläufers Tryngites subruficollis. Limicola 25: 54-62.

Van Duivendijk, N. (2011): Advanced Bird ID Handbook – The Western Palearctic. London.

Van Rijswijk, W. & N. van Duivendijk (2014): CDNA-mededelingen. Dutch birding 36 (5): 340.

Vinicombe, K., A. Harris & L. Tucker (2014): The Helm Guide to Bird Identification. An In-Depth Look At Confusion Species. London.

www.dda-web.de (Abfrage Grasläufer am 5.11.2014).

www.dutchavifauna.nl (Abfrage Grasläufer am 29.10.2014).

www.nwo-avi.com

Anschrift des Verfassers:

Wolfgang Pott

Ostenallee 6

59063 Hamm