VdM 11/2019
Die Falkenraubmöwe von Westhofen
Von Dieter Ackermann und Eckhard Möller
Als die Wasserwerke Westfalen ihre Wasserhaltungspumpen abstellten, wurde ab 2008 aus der Röllingwiese, einer Rinderweide im Ruhrtal bei Schwerte-Westhofen (Kreis Unna), eine große Blänke von rund 40 000 m², die vor allem durchziehende Vögel wie ein Magnet anzieht. Genau so wurden dadurch Fotografen diverser Sorten angelockt. Wegen der damit verbundenen Störungen der Wasservögel gab es zunächst eine provisorische Tarnung, ab 2015 dann aber von der AGON Schwerte einen ordentlichen, festen Beobachtungsstand (Abb. 1).
Abb. 1: Beobachtungsstand. Foto: Dieter Ackermann
Am Nachmittag des 1. September 2019 fuhren meine Frau und ich (DA) einfach mal wieder dorthin, denn der herbstliche Vogelzug ist immer wieder für interessante Beobachtungen gut. Dort trafen wir Raimund Thiele, der uns auf einen Baumfalken aufmerksam machte, der über der Wasserfläche Libellen fing und sie gern schon im Flug verzehrte, bevor er seinen Ruheplatz in trockenen Zweigen einer hohen Pappel wieder einnahm. Ein Eisvogel setzte sich auf die Zweige eines umgestürzten Baums, auf einem alten Zaunpfahl langweilte sich ein junger Graureiher und ab und zu kam mal eine Bekassine aus dem dichten Uferbewuchs der gegenüberliegenden Seite heraus.
Dann der Ruf „Da kommt etwas geflogen!“. Wie eine graue Möwe, meinte meine Frau, die den anfliegenden Vogel mit dem Glas verfolgte. Er ging auf die Wasserfläche herunter. Thiele und ich versuchten, noch schnell einige Fotos zu machen. Er erwischte ihn noch im Fliegen, ich erst bei der Landung auf dem Wasser. Nur ganz kurz hielt er sich dort auf, dann schwamm eine neugierige Stockente (natürlich ein Weibchen! Abb. 2) auf den Neuankömmling zu. Der erhob sich gleich wieder in die Luft, ging nochmal hinter den Binsen für uns nicht sichtbar herunter und verschwand dann endgültig (Abb. 3-10).
Die Falkenraubmöwe von Westhofen. Fotos 1, 3-5: Dieter Ackermann. Fotos 2, 6-10: Raimund Thiele
Foto 2
Dass es eine Raubmöwe war, darüber waren wir uns schnell einig, auch darüber, dass es ein Jungvogel sein musste. Aber von welcher Art? Als meine Frau und ich (DA) vor Jahren zur Brutzeit auf der norwegischen Insel Runde waren, beobachteten wir helle und dunkle Schmarotzerraubmöwen, wie sie andere Wasservögel in der Luft bedrängten, bis sie ihre Beute fallen ließen. Die Raubmöwen fingen die Nahrungsbrocken dann sehr geschickt auf. An diese spannenden Momente wurden wir natürlich erinnert. Wir vertagten die Entscheidung.
Zuhause am Computer und mit dem Svensson (2018) daneben ging es auch nicht viel besser. Die Spatelraubmöwe mit ihrem kräftigen Schnabel konnten wir schnell ausschließen. Aber Schmarotzerraubmöwe und Falkenraubmöwe hätten es schon sein können, vor allem wenn man die Variationsbreiten im Gefieder der Jungvögel beider Arten in Betracht zieht. Aber ist bei unserem Vogel der Schnabel kurz oder länger und ist nur die Schnabelspitze schwarz oder der halbe Schnabel (Abb. 6)? Hat er runde oder spitze mittlere Steuerfedern? Alles eine Sache der Interpretation. Für uns sieht die Schwanzspitze eher eckig aus (Abb. 3). Hat er einen dunklen Brustring – höchstens ganz schwach. Ist der Vogel mehr grau oder braun? Das kommt darauf an, ob man unsere oder Raimund Thieles Bilder betrachtet. Eine Sache des Weißabgleichs der Kamera.
In der festen Überzeugung, dass Seltenheiten immer einen großen Bogen um uns machen, entschieden wir uns für die nicht ganz so seltene Schmarotzerraubmöwe. Was uns nur störte, waren die fehlenden weißen Basen der Handschwingen der jungen Schmaro, die einen hellen Keil auf der Flügeloberseite bilden sollen. Die Zweifel blieben.
Raubmöwen als solche zu erkennen ist nicht schwierig. Die Probleme fangen dann an, wenn es darum geht, welche der vier in Deutschland zu erwartenden Arten da gerade zu sehen ist oder war. Die dicke dunkle Mäusebussard-ähnliche Skua (Stercorarius skua) kann man noch recht leicht herauspicken. Schwieriger wird es mit den drei anderen Arten.
Schon die dickbrüstige Spatelraubmöwe (Stercorarius pomarinus) auszuschließen, erfordert meist gute Beobachtungsumstände. Im hier vorliegenden Fall des Vogels aus Schwerte ging es aber gleich um die Frage: Ist es eine Schmarotzer- (St. parasiticus) oder eine Falkenraubmöwe (St. longicaudus)?
Wenn man ein recht neues Bestimmungsbuch der Westpaläarktis aufschlägt, das mit Fotos arbeitet (Jiguet & Audevard 2017), findet man bei Schmarotzerraubmöwe als Merkmal „quite slim bill with outer third black“. Das passt schon mal auf den Westhofener Vogel. „Barred undertail-coverts“ – das passt auch. Crossley (2011) schreibt aus Nordamerika: „…narrow pale fringes to feathers, including primary tips” – auch das trifft offenbar zu. Auch Vinicombe et al. (2014) weisen auf „noticeable pale tips to the primaries“ hin. Ein kurzer Schwanzspieß ist auch zu sehen. Also scheint es eine junge Schmarotzerraubmöwe zu sein. Auf der anderen Seite sagen Bestimmungsbücher über Falkenraubmöwen: „Pigeon-like head-shape with small bill“ (Crossley 2011), „small bicoloured bill“ (Jiguet & Audevard 2017). Der Schnabel des Westhofener Vogels ist aber nicht unbedingt “small”. Aber Crossley warnt gleichzeitig: Raubmöwen-Bestimmung „is very difficult, largely because of variations in plumage and size”. Daher schickte die AviKom eine Reihe der vorliegenden Fotos an erfahrene Beobachter mit der Bitte um eine Stellungnahme. „Helle Flügelspitzen… wohl Schmaro“, „the long and slender bill is typical of a parasiticus”, “Handschwingenspitzen hell gesäumt … und mittlere Steuerfedern deutlich verlängert … Schmaro“ – lauteten einige Antworten. Eine deutliche Aussage wurde aber mitgeliefert: „…it‘s not an easy one“.
Eine genaue Analyse der Fotos brachte dann aber klare Ergebnisse: „Für eine Schmaro zu kalt gefärbt, die Schwanzspieße sind relativ lang und gerundet, dass passt alles zu Falken … allerdings kommt mir der Schnabel etwas dünn vor“. „Der Vogel zeigt wesentliche Merkmale einer Falkenraubmöwe (eher klein gebaut, kalt graubraune Farbtöne im Gefieder, heller Nacken, einfarbige Brust, gebänderte Oberschwanzdecken etc.). Nur der Schnabel wirkt eher untypisch schmal für FRM, aber auch der ist noch im Rahmen“. „Sieht farblich und von den Oberschwanzdecken … wie eine Falken aus und womöglich sind solche Handschwingenspitzenflecke sogar bei der möglich, zentrale Steuerfedern scheinen gerundet…“. „Das ist eine Falkenraubmöwe, trotz des recht langen Schnabels“. Sibley (2000) weist darauf hin, dass „juveniles … generally grayish-toned, with crisp, pale feather edges” sind.
Der gut dokumentierte Vogel von Westhofen wurde daher von der AviKom als Falkenraubmöwe im 1. Kalenderjahr anerkannt.
Ein erfahrener Nordsee-Beobachter schrieb: „Raubmöwen von Fotos bestimmen ist immer Mist!“. Generell gilt: „It is an odd paradox that distant skuas (Raubmöwen E.M.) at sea are routinely identified with confidence, even by inexperienced birders, yet close-range birds inland often prove controversial” (Vinicombe et al. 2014).
Danksagung: Unser großer Dank geht an Raimund Thiele, dessen Fotos wir nutzen durften.
Literatur
Crossley, R. (2011): The Crossley ID Guide, Eastern Birds. Princeton.
van Duivendijk, N. (2011): Advanced Bird ID Handbook The Western Palearctic. London.
Jiguet, F. & A. Audevard (2017): Birds of Europe, North Africa and the Middle East – A Photographic Guide. Princeton and Oxford.
Sibley, D. (2000): The North American Bird Guide. Mountfield.
Svensson, L. (2018): Der Kosmos Vogelführer. Stuttgart.
Vinicombe, K., A. Harris & L. Tucker (2014): Bird Identification. London.
Anschrift der Verfasser:
Dieter Ackermann
Am Derkmannsstück 59
58239 Schwerte
Eckhard Möller
Stiftskamp 57
32049 Herford