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VdM 05/2010

Sprosser, ick hör dir trapsen – Der Sprosser vom Hücker Moor

Von Christoph Moning


Als Schüler verbrachte ich viele meiner Nachmittage am Hücker Moor, einem ehemaligen Moorgebiet im Kreis Herford nahe der Stadt Spenge. Die Bruchwälder besonders östlich des zentralen Sees beherbergen jedes Jahr einige Nachtigallpaare und so war ich nicht überrascht, ihre schönen Gesänge auch am 12. Mai 1996 zu hören. Unter die Nachtigallstrophen mischte sich jedoch ein auffallend abweichender „Nachtigallgesang“, vom Eindruck her viel härter und schmetternder, bedächtiger , aber laut und weit schallend vorgetragen und mit zahlreichen Wiederholungen im Gegensatz zum Gesang der Nachtigall – mit immer wieder eingeflochtenen, charakteristischen „dottock-dottock-dottock-dottock“-Strophen (Kastagnetten-Phase, Sorjonen 1983).

Zuhause hörte ich mir Referenzgesänge an und erkannte meine merkwürdige ‚Nachtigall’ als Sprosser (Luscinia luscinia) wieder. Damals noch ohne Kamera ausgestattet, überlegte ich, wie sich der Vogel dokumentieren ließ. Von einem Freund lieh ich mir einen Parabolspiegel-Mikrofon-Bausatz und noch in der gleichen Nacht lötete mir mein Vater die Anschlüsse für meinen Walkman zusammen, so dass sich damit Aufnahmen anfertigen ließen. Im ersten Morgengrauen des 13. Mai saß ich im Gebüsch am Hücker Moor und tatsächlich, der Sprosser begann abermals zu singen. Dabei entstand die Aufnahme:

Sprosser, Gesang 1 (Hücker Moor, Kreis Herford, 12.-14.5.1996, Aufnahme: Christoph Moning)

Froh über meine besondere Beobachtung trug ich die Aufnahme ins Biologiezentrum Bustedt in Hiddenhausen, wo sich die Lehrer skeptisch zeigten, doch leitete Burkhard Kriesten das Band an Eckhard Möller weiter und dieser an Andreas Helbig (damals Kloster/Hiddensee). Die beiden bestätigten die Artdiagnose schließlich. Erst hier wurde mir bekannt, dass es sich um den ersten Nachweis des Sprossers für den Kreis Herford und den vierten aus jüngerer Zeit in Nordrhein-Westfalen handelt.

Sprosser auf Umwegen – Nachweise westlich des regulären Auftretens

Singende Sprosser abseits ihrer Verbreitung und ihrer üblichen Zugwege, das ist kein neues Phänomen (Lille 1988, Glutz von Blotzheim & Bauer 1998, Bauer et al. 2005). Der Nachweis vom Hücker Moor gliedert sich nahtlos in das Gesamtbild des Auftretens dieser Art in den westdeutschen Bundesländern ein. In Mitteleuropa besiedeln Sprosser die Niederungsgebiete des nordöstlichen Mitteleuropa vom östlichen Hügelland Schleswig-Holsteins durch den Nordosten der norddeutsch-polnischen Tiefebene bis in die Talniederungen im Einzugsgebiet der oberen Theiß im Nordosten der Großen Ungarischen Tiefebene (Glutz von Blotzheim & Bauer 1998). Die Art hat im letzten Jahrhundert ihr Areal erweitert, auch wenn sie die Grenzen der historisch bekannten größten Verbreitung in Mitteleuropa zu Beginn des 19. Jh. nur in ihrem nördlichsten Abschnitt erreicht oder überschritten hat (Bauer et al. 2005). Im Westen Deutschlands ist das Brutvorkommen auf Schleswig-Holstein und Hamburg beschränkt. In Ostdeutschland bewohnen Sprosser den größten Teil Mecklenburg-Vorpommerns und etwa das Nordostviertel Brandenburgs mit Randvorkommen in Berlin. Hier werden auch die bundesweit höchsten Dichten erreicht, etwa in der Küstenzone und dem Hinterland der Mecklenburgischen Seenplatte sowie in Brandenburg entlang der Oder nördlich Frankfurt an der Oder (Glutz von Blotzheim & Bauer 1998).

In Schleswig-Holstein, wo der Sprosser erst seit etwa 1870 zu brüten scheint und sein Areal gegenwärtig noch allmählich westwärts ausweitet, wurden singende Sprosser regelmäßig westlich der regulären Verbreitung beobachtet. Zwischen Bad Segeberg und Mölln stieß die Art als Brutvogel bis ins Elbtal vor. Seit etwa 1970 treten Sprosser in Hamburg auf. 1971 bestand erstmals Brutverdacht (Bauer et al. 2005). In Niedersachsen sind singende Sprosser wiederholt und seit 1960 auch zunehmend nachgewiesen worden (Glutz von Blotzheim & Bauer 1998, Zang et al. 2005). Bis 1990 gab es verstärkt Nachweise bis an die Leine und weiter bis an die Weser. In den 1980er Jahren wurde der Sprosser fast alljährlich noch weiter westlich am Dümmer beobachtet (Ludwig et al. 1990). Seit Beginn der 1990er Jahre erreichten Sprosser alljährlich Westniedersachsen. 2004 gelang an den Meißendorfer Teichen sogar ein erster Brutnachweis (Zang et al. 2005). In den Niederlanden, in denen Sprosser seit 1977 regelmäßig festgestellt wurden, konnte schon 1995 eine Brut nachgewiesen werden (van Dongen et al. 1995).

Der singende Sprosser vom Hücker Moor sang demnach zwar zu Zeiten der Expansion nach Westen, jedoch immer noch deutlich abseits der regulären Brutgebiete. Der Zeitpunkt des Auftretens bringt den Nachweis in Zusammenhang mit dem Zuggeschehen. Sprosser überwintern im tropischen Ostafrika vor allem südlich des Äquators. Die wenigen vorliegenden Ringfunde bestätigen für europäische Sprosser einen Schleifenzug mit etwas östlicherer Heimzugroute. Europäische Sprosser umwandern oder queren das östliche Mittelmeer und berühren dabei die Balkanhalbinsel westwärts bis zum ehemaligen Jugoslawien, Kreta, Ägypten und den Sudan. Einzelne Vögel gelangen westwärts bis Italien, Malta, und Libyen. Da die Brutgebiete aus südöstlicher Richtung angeflogen und verlassen werden, sind Sprosser in Westeuropa Irrgäste, wo sie fast alljährlich in Großbritannien, den Niederlanden und seltener in Frankreich nachgewiesen wurden (Glutz von Blotzheim & Bauer 1998, Bauer et al. 2005).

Die von NRW aus nächstgelegenen regelmäßigen Durchzugsgebiete liegen im Osten Schleswig-Holsteins, Hamburg und im Osten Niedersachsens (Glutz von Blotzheim & Bauer 1998). Westlich dieser Gebiete tritt der Sprosser nur unregelmäßig auf. Auf Helgoland und in Niedersachsen hat sich der Sprosser jedoch im Zuge seiner Ausbreitung von einer Ausnahmeerscheinung zu einem nahezu alljährlichen, wenn auch seltenen Durchzügler entwickelt (Zang et al. 2005, Jochen Dierschke pers. Mitt.). Aus den übrigen westdeutschen Bundesländern existieren verhältnismäßig wenige Nachweise. Auch aus Belgien und der Schweiz liegen nur wenige Nachweise vor (Glutz von Blotzheim & Bauer 1998, Bauer et al. 2005). Eine Übersicht des Auftretens des Sprossers abseits der regulären Verbreitung im Westen Deutschlands ist in Tabelle 1 zusammengestellt.

Tabelle 1. Sprossernachweise abseits der regulären Durchzugsgebiete im Westen Deutschlands. Die Daten summieren die den Avifaunistischen Landeskommissionen vorliegenden Meldungen und Literaturnachweise. Der Stand der Daten ist April 2010.
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Aufgrund der Gesangsaktivität überwiegen die Frühjahrsnachweise (Tab. 1). Beispielsweise standen in Niedersachsen von den Nachweisen 1936-2008 175 Daten aus dem Heimzug nur neun aus dem Wegzug gegenüber (Zang et al. 2005, Degen et al. 2005, 2009). Auch auf Helgoland, wo seit 1900 91 Nachweise vorliegen, stehen den 79 Nachweisen vom Heimzug nur zwölf vom Wegzug gegenüber. Dort erfolgten 22 % der Nachweise durch Gesang oder durch Fang 48 %, was in der heimlichen Lebensweise des Sprossers begründet ist (Jochen Dierschke pers. Mitt.). Da prinzipiell nur ein kleiner Teil der auf Helgoland rastenden Singvögel singt (Moritz 1982), dürfte die Mehrheit der tatsächlich rastenden Sprosser hier wie auch auf dem Festland unbemerkt geblieben sein.

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Abbildung 1. Nachweise von Sprossern auf dem Heimzug abseits (n = 281) der regulären Durchzugs- und Brutgebiete: In Baden-Württemberg (n = 7, Hölzinger (1999), Gerrit Nandi (AKBW), pers. Mitt.), Bayern (n = 3, Kirsten Krätzel (BAK) pers. Mitt.), Hessen (n = 6, Jan Heckmann (AKH), pers. Mitt.), auf Helgoland (n = 79, Jochen Dierschke (HAK), pers. Mitt.), in Niedersachsen (n = 175, Zang et al. 2005, Degen et al. 2005, 2009), Nordrhein-Westfalen (n = 10, Jan Ole Kriegs (AKNW), pers. Mitt.) und Rheinland-Pfalz (n = 1, Ewald Lippok (AKRP), pers. Mitt.). Dargestellt sind Pentadensummen. Für das Saarland existiert bislang kein Heimzugnachweis (Günter Nicklaus (AKSL), pers. Mitt.). Gewertet wurde jeweils das Erstbeobachtungsdatum. Der Pfeil zeigt den Zeitpunkt des Nachweises vom Hücker Moor. Die Daten entsprechen dem Stand April 2010.

Das Auftreten des Sprossers vom Hücker Moor fällt mit dem Haupt-Frühjahrsdurchzug dieser Art im westlichen Mitteleuropa zusammen. Dies zeigt eine Aufstellung von allen verfügbaren Meldungen und Nachweisen aus der Literatur der letzten Jahrzehnte für Helgoland und die westdeutschen Bundesländer, in denen der Sprosser jeweils nicht oder nicht regelmäßig brütet (Abb. 1). Bei dem Nachweis vom Hücker Moor handelt es sich demnach um einen klassischen versprengten Durchzügler.

Sprossernachweise in NRW

Wie Tabelle 2 zu entnehmen ist, handelt es sich beim Sprosser in NRW um eine Seltenheit. Die Art wird hier so selten wie in den südlichen Bundesländern nachgewiesen (Tab. 1, Abb. 1), obwohl NRW vergleichsweise nahe an regulären Zugwegen und Brutgebieten liegt. Da der Heimzug aus südöstlicher Richtung erfolgt und NRW noch dazu an keiner Küste liegt, die als Leitlinie für verirrte Vögel dienen könnte, werden nur sehr wenige Sprosser in NRW gefunden, was für die überwiegend präzisen Navigationskünste dieser Art spricht und noch durch ihr heimliches Verhalten und einen der Nachtigall ähnlichen Gesang unterstützt wird.

Sprosser, Gesang 2 (Sprosser in einem Schleddental bei Bad-Sassendorf-Lohne, 23.-29.5.2001, Aufnahme: Axel Müller)

sprosserschweicheln Foto 1. Sprosser, Hiddenhausen-Schweicheln, 16.-19.5.2009, Foto: Phillipp Aufderheide

Tabelle 2 fasst die Nachweise aus NRW zusammen.

Tabelle 2. Alle zehn anerkannten Nachweise von Sprossern in NRW nach Angaben der Avifaunistischen Kommission in NRW.

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Die kurze Tabelle 2 lässt für viele Beobachter wenig Hoffnung, auch selbst einmal einen Sprosser in NRW zu beobachten. Doch wer mit geschärften Ohren auf merkwürdige Nachtigallgesänge im Mai und Juni achtet, dem mögen weitere Nachweise dieser so seltenen Geschwisterart der Nachtigall in Nordrhein-Westfalen gelingen.

Dank

Mein Dank gilt Jan Ole Kriegs für die Erstellung der Sound-Datei meiner Aufnahme sowie den Avifaunistischen Landeskommissionen, die mir jeweils innerhalb weniger Tage alle notwendigen Daten zur Verfügung stellten und somit eindrücklich zeigten, dass sie ausgezeichnet arbeiten.
Eckhard Möller danke ich für seine hartnäckige Einforderung des Artikels, so dass er fristgerecht erscheinen konnte.

Literatur

Bauer, H.-G., E. Bezzel & W. Fiedler (2005): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas, Passeriformes, Sperlingsvögel. – Wiesbaden.
Degen, A., R. Aumüller, D. Gruber, D. Gruber, G.-M. Heinze & G. Rotzoll (2009): Seltene Vogelarten in Niedersachsen und Bremen – 2. Bericht der Avifaunistischen Kommission Niedersachsen und Bremen (AKN). – Vogelkdl. Ber. Nieders. 41: 69-87.
Degen, A., R. Aumüller, D. Gruber, G.-M. Heinze, T. Krüger & G. Rotzoll (2005): Seltene Vogelarten in Niedersachsen und Bremen – 1. Bericht der Avifaunistischen Kommission Niedersachsen und Bremen (AKN). – Vogelkdl. Ber. Nieders. 37: 1-18.
Dongen, R. M. van, R. Hofland & P. W. De Rouw (1995): Recente meldingen. Nederland. – Dutch Birding 17: 176-177.
Glutz von Blotzheim, U. N. & K. M. Bauer (1998): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. – Band 11/1, Passeriformes (2. Teil). – Wiesbaden.
Hölzinger, J. (1999): Die Vögel Baden-Württembergs, Band 3.1, Singvögel 1. – Stuttgart.
Lille, R. (1988): Der Sprosser L. luscinia am Dümmer farbberingt. – Vogelk. Ber. Niedersachs. 20: 20-21.
Ludwig, J., H. Belting, A. J. Helbig & H.A. Bruns (1990): Die Vögel des Dümmer-Gebietes. – Naturschutz Landschaftspfl. Nieders., Heft 21.
Moritz, D. (1982): Langfristige Bestandsschwankungen ausgewählter Passeres nach Fangergebnissen auf Helgoland. – Seevögel 3, Suppl.: 13-24.
Sorjonen, J. (1983): Transmission of the two most characteristic phrases of the song of the Thrush Nightingale in different environmental conditions. Ornis Scand. 14: 81–83.
Zang, H., H. Heckenroth & P. Südbeck (2005): Die Vögel Niedersachsens und des Landes Bremen – Drosseln, Grasmücken, Fliegenschnäpper. – Naturschutz Landschaftspfl. Niedersachs. B, H. 2.9.

Anschrift des Verfassers:

Christoph Moning
Spechtweg 44
85354 Freising