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VdM 04/2015

Die Krabbentaucher von Nordrhein-Westfalen

Von Eckhard Möller

Wenn die Krabbentaucher (Alle alle) in ihren Brutkolonien in der Arktis in riesigen Zahlen fast wie Mückenschwärme in der Luft fliegen, kann man sich gut vorstellen, dass heftige Stürme – vor allem aus dem Nordwesten – einige von ihnen vom Atlantik bis in das Binnenland verdriften. So weisen nahezu alle Autoren darauf hin, dass den wenigen Funden im küstenfernen Nordrhein-Westfalen Orkane, Stürme oder zumindest starke Winde vorausgegangen sind.

Der erste Nachweis eines Krabbentauchers stammt vom Beginn des letzten Jahrhunderts:

Am 16. Juni 1910 wurde einer bei Emmerich (Kreis Kleve) geschossen. Der Balg gelangte dann in das Museum Koenig in Bonn. Dort konnte ihn der spätere Kurator Niethammer schon zu Beginn der 1950er Jahre nicht mehr in der Sammlung finden (Neubaur 1957). Erstaunlicherweise hat in derselben Gegend bei Emmerich wenige Jahre zuvor (im Januar 1907) auch ein Papageitaucher in den Schroten eines Jägers sein Leben gelassen (Jansen 2015).

Am 21. November 1916 ging August Rieke aus Natrup-Hagen (Landkreis Osnabrück) mit einem Freund in den Kalksteinbrüchen etwa 2 km östlich des Bahnhofs von Lengerich (Kreis Steinfurt) spazieren, als ihnen an einer Steilwand ein unbekannter flatternder Vogel auffiel. Rieke konnte ihn dann greifen und lebend mit nach Hause nehmen. Der seltsame Vogel verschmähte jedoch jegliches, auch „gewaltsam eingegebenes Futter“ und starb am nächsten Tag (Reichling 1921). Es war ein adultes Krabbentaucher-Weibchen. Rieke „war so gütig, mir das seltene Objekt zu überlassen. Ich habe den interessanten Irrgast als eins der wertvollsten Belegstücke unter den Ausnahmeerscheinungen der westfälischen Avifauna den Sammlungen unseres Provinzial-Museums überwiesen“, schrieb Reichling (Abb. 1).

Abb. 1: Der Krabbentaucher von Lengerich 1916, den Hermann Reichling der Familie Rieke in Natrup-Hagen abgeschwatzt hat.

Foto: Jan Ole Kriegs (LWL-Museum für Naturkunde)

Offenbar weil der Finder Rieke in Natrup-Hagen wohnte und das Präparat dort anfangs im Familienbesitz war, haben Brinkmann (1933) und später Zang (in Zang et al. 1991) den Fundort des Vogels nach Niedersachsen „verlegt“. Eindeutig ist der Krabbentaucher aber auf westfälischem Gebiet gefangen worden.

Bei Hiltrup/Amelsbüren nahe Münster wurde am 6. November 1956 ein lebender Krabbentaucher gegriffen, der aber am folgenden Tag in Pflege starb. Sein Balg wird im LWL-Museum für Naturkunde in Münster aufbewahrt (Abb. 2). Interessanterweise ist dieser Nachweis nicht in der westfälischen Avifauna von Peitzmeier (1969) aufgeführt. Recherchen ergaben, dass zu dem Zeitpunkt in den 1960er Jahren, als Heinz-Otto Rehage die Vogelsammlung im Museum für die geplante Avifauna durchgesehen hat, der Balg ganz offensichtlich nicht vorlag, vielleicht verlegt oder ausgeliehen war.

Abb. 2: Der Krabbentaucher von Hiltrup 1956.

Foto: Jan Ole Kriegs (LWL-Museum für Naturkunde)

Ziemlich genau drei Jahre später wurde am 3. November 1959 bei Ennepetal-Voerde (Ennepe-Ruhr-Kreis) ein lebender Krabbentaucher gefunden und zu Walther Emmerling gebracht, der ihn auf einen Fischteich in der Nähe setzte. Dort schwamm und tauchte der kleine Alk, lag aber am Folgetag tot am Ufer. Er wurde dann an das Naturkundemuseum in Kassel übergeben (Emmerling 1960).

Auf der Straße zwischen Hagen-Vorhalle und Herdecke konnte Ernst Scholz am 7. März 1966 einen erschöpften Krabbentaucher greifen. Noch am selben Abend wurde der Vogel „mit dem Fahrpersonal der Bundesbahn“ zur Vogelwarte Wilhelmshaven transportiert, wo er am folgenden Tag mit Heringsfleisch erfolgreich gefüttert werden konnte.  Er starb aber „in den nächsten Tagen“ (Janzing 1971). Sein Balg befindet sich offenbar in der Sammlung der Vogelwarte (Peitzmeier 1969).

Am 6. November 1969 erhielt der Duisburger Zoo einen Krabbentaucher, der in Uedem (Kreis Kleve) aufgegriffen worden war. Er hatte sich dort in einer Regenpfütze unter Hausenten aufgehalten. Kurz nach seiner Einlieferung starb der Vogel (Gewalt 1971). Er wurde danach im Museum Koenig in Bonn präpariert und in der Heimatabteilung ausgestellt (Abb. 3-5).

Abb. 3-5: Der Krabbentaucher aus dem Kreis Kleve 1969.

Fotos: Kathrin Schidelko & Darius Stiels (Museum Alexander Koenig Bonn)

Am 14. Juli 1971 fanden Schüler in einem Garten in Gütersloh-Spexard einen völlig ermatteten Krabbentaucher, der nur 102 Gramm wog und wohl kurz darauf starb (Tiedemann 1972, Abb. 6). Es war ein Weibchen (Gries et al. 1979). Wo sich das angefertigte Präparat heute befindet, ist derzeit nicht bekannt.

Abb. 6: Zeichnung von K. Hinzer des Gütersloher Krabbentauchers von 1971 (aus anthus 9: 19).

In einem Hausgarten in Rheinberg-Orsoy (Kreis Wesel) entdeckten Anwohner am 1. März 1988 einen lebenden Krabbentaucher. Trotz tierärztlicher Versorgung starb er am folgenden Tag. Sein Gewicht betrug nur 108 Gramm. Er wurde dann ins Museum Koenig in Bonn eingeliefert und dort präpariert (Abb. 7-11) (Gaßling 1988).

Abb. 7-12: Die Krabbentaucher von Rheinberg 1988 und von Bonn 1990.

Fotos: Kathrin Schidelko & Darius Stiels (Museum Alexander Koenig Bonn)

Am 12. Dezember 1990 wurde ein Krabbentaucher in das Tierheim Bonn eingeliefert, der im Stadtteil Beuel auf einem regennassen Parkplatz notgelandet und von Passanten aufgegriffen worden war. Das Tierheim und dessen Tierärztin kannten die Vogelart nicht; der kleine Alk wurde in einen Käfig gesetzt und bekam Körnerfutter (!) angeboten. Über Goetz Rheinwald vom Museum Koenig kam der Kontakt zu Til Macke zustande, der – geschockt von der unprofessionellen Haltung – den Krabbentaucher sofort abholte und ihn zu Hause in der Badewanne mit frischem Fisch versorgte und stopfte. Leider starb der Vogel kurz darauf. Im Museum Koenig wurde er obduziert und gebalgt (Abb. 7-9, 12). Sein Magen-Darm-Trakt war total verölt, daher konnte er offenbar keine Nahrung mehr verdauen.

Kurze Zeit später lag am 29. Dezember 1990 ein toter Krabbentaucher am Ufer  eines Gewässers im NSG Hallerey in Dortmund-Dorstfeld. Sein Gefieder war noch in gutem Zustand. Er wurde im Museum für Naturkunde in Dortmund präpariert (Neugebauer 2007/08).

Am 2. November 2006 fand ein Spaziergänger im Stadtwald von Haltern-Lavesum (Kreis Recklinghausen) eine „kleine Elster“, die er an Hubert Tölle, den Wald-Betreuer, übergab (Abb. 13). Der Krabbentaucher starb noch am selben Tag. Der tote Vogel wurde leider entsorgt (AviKom 2007).

Abb. 13: Der Krabbentaucher von Haltern 2006.

Foto: Hubert Tölle

Der bisher letzte Krabbentaucher  in NRW war schon einige Zeit tot, als seine Reste am 8. September 2008 in Dortmund am Telekom-Hochhaus  gefunden wurden. Offenbar war der Vogel beim Scheibenanflug ums Leben gekommen (AviKom 2009).

Einer der in unserem Bundesland bisher nachgewiesenen zwölf Krabbentaucher wurde von Menschen getötet; die anderen elf starben an Erschöpfung oder aus anderen nicht bekannten Gründen. Die Chancen für die Birder, diesen arktischen Vogel auf ihre ‚NRW-Landesliste‘ zu bekommen, also hier lebend in Freiheit zu beobachten, stehen daher schlecht.

Es ist davon auszugehen, dass nur ein Teil, vielleicht sogar nur ein geringer Teil der ins Binnenland geblasenen Krabbentaucher überhaupt gefunden wird. Sie sind klein, und wenn sie in irgendeiner Form von höherer Vegetation zu Boden gehen und dort sterben, stehen die Chancen auf Entdeckung schlecht.

Danksagung: Mein besonderer Dank geht an Til Macke für umfassende Informationen zu dem Bonner Krabbentaucher, an Kathrin Schidelko & Darius Stiels, die in der Museumssammlung unter den vielen Krabbentauchern von Alexander Koenig die drei rheinischen aufgespürt und perfekt fotografiert haben, an Manfred Lindenschmidt für die exakte Lokalisierung des Fundorts des Lengericher Vogels und an Jan Ole Kriegs für die Durchsicht der Landessammlung in Münster und die Fotos.

Literatur

Avifaunistische Kommission (2007): Seltene Vogelarten in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2006. Charadrius 43: 57-65.

Avifaunistische Kommission (2009): Seltene Vogelarten in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2008. Charadrius 45: 105-119.

Brinkmann, M. (1933): Die Vogelwelt Nordwestdeutschlands. Hildesheim.

Emmerling, W. (1960): Krabbentaucher (Plautus alle) bei Ennepetal gefunden. Orn. Mitteilungen 12: 141.

Gaßling, K.-H. (1988): Dritter Nachweis des Krabbentauchers (Alle alle) für das Rheinland. Charadrius 24: 259-260.

Gewalt, W. (1971): Krabbentaucher (Plautus alle) am Niederrhein. Charadrius 7: 69.

Gries, B., H. Hötker, G. Knoblauch, J. Peitzmeier, H.-O. Rehage & C. Sudfeldt (1979): Anhang zu Avifauna von Westfalen. Abhandlungen aus dem Landesmuseum für Naturkunde zu Münster Westfalen 41, Heft 3/4: 477-576.

Jansen, JJFJ. (2015): Der Papageitaucher von Emmerich. „Vogel des Monats Januar 2015“, www.nwo-avi.com.

Janzing, E. (1971): Krabbentaucher (Plautus alle) verflog sich an den Harkortsee. Orn. Mitteilungen 23: 238-239.

Mildenberger, H. (1982): Die Vögel des Rheinlandes, Band 1. Düsseldorf.

Neubaur, F. (1957): Beiträge zur Vogelfauna der ehemaligen Rheinprovinz. Decheniana 110: 1-278.

Neugebauer, R. (2007/08):  Die Vogelwelt des NSG Hallerey in Dortmund. Dortmunder Beiträge zur Landeskunde 41: 55-108.

Peitzmeier, J. (1969): Avifauna von Westfalen. Münster.

Reichling, H. (1921): Der Kleine Krabbentaucher, Alle alle L., in Westfalen, mit Vorkommen im Innern von Deutschland und an den deutschen Küsten. Journal für Ornithologie 69: 139-147.

Tiedemann, G. (1972): Sommernachweis des Krabbentauchers in Westfalen. Anthus  9: 19.

Zang, H., G. Großkopf & H. Heckenroth (1991): Die Vögel Niedersachsens und des Landes Bremen – Raubmöwen bis Alken. Naturschutz und Landschaftspflege in Niedersachsen, Sonderreihe B Heft 2.6: 188-189.

Anschrift des Verfassers:

Eckhard Möller

Stiftskamp 57

32049 Herford