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VdM 05/2012

Der Kleine Gelbschenkel von der Escher Bürge

Von Heribert Schwarthoff

Es war im Frühjahr 1980. Wie seit Jahren suchte ich am Nachmittag des 10. Mai die Kläranlage der Zuckerfabrik Elsdorf in der Escher Bürge (Kreis Düren) zur wöchtlichen Limikolenzählung auf. Das über 100 Hektar große menschengemachte Feuchtgebiet lag tief im Hambacher Wald und war ein wundervoller „Trittstein des Vogelzugs“ in der Jülicher Börde, die sonst weit und breit kaum Rast- und Nahrungsplätze für Wat- und Wasservögel bietet.

Das alles ist längst Vergangenheit! Die Kläranlage und auch die sich über 42 Quadratkilometer erstreckenden uralten geschichtsträchtigen Bürgewälder sind schon vor vielen Jahren bis auf geringe Reste im „größten Loch der Welt“, dem Braunkohlentagebau Hambach versunken. Selbst die knapp halb so große Ersatzfläche am Sittarder Hof im benachbarten Rhein-Erft-Kreis steht jetzt kurz vor der Abbaggerung.

Bei sonnigem windstillem Wetter konnte ich damals schon von weitem die lebhaften Rufe der vielen Limikolen hören, die sich auf dem Heimzug in den zum Teil abgelassenen sogenannten Stapelbecken zur Auffrischung ihrer Energiereserven vor dem Weiterflug eingefunden hatten.

Allein 35 Grünschenkel zählte ich, viele Rotschenkel, Bruchwasserläufer und Kiebitze, aber auch Dunkle Wasserläufer in ihren schwarzen, weiß getupften Prachtkleidern, Kampfläufer mit ihren bizarren Halskragen in verschiedenen Farben, Flussuferläufer, Fluss- und Sandregenpfeifer, sogar ein Sichelstrandläufer war dabei.

Und plötzlich, während ich die Vögel einzeln durchmusterte, sah ich ihn. Die goldgelben „Beine“ leuchteten in der Sonne regelrecht auf. Ich erinnere mich sehr gut, wie mein Herzschlag schneller wurde. Zuerst dachte ich wegen seiner schlanken, hochbeinigen Gestalt an einen Teichwasserläufer, den ich seit 1972 hier mehrfach gesehen hatte und daher ganz gut kannte. Die Größe zwischen Grünschenkel und Bruchwasserläufer passte. Diese beiden Arten stocherten in unmittelbarer Nähe im feuchten Schlamm und gestatteten daher einen direkten Vergleich. Aber nie hatte ich einen Teichwasserläufer mit so intensiv gelben Beinen gesehen! Auch der Schnabel war anders, zwar im Gegensatz zu anderen in Frage kommenden Arten deutlich feiner, aber kürzer als beim Teichwasserläufer. Zusätzlich fiel der weiße, eckig abgegrenzte Bürzel auf, besonders als er später einmal aufflog.

Diesen Vogel musste ich mir genauer ansehen! Ich beendete daher zunächst die Zählung und kehrte dann zum Becken mit der Nummer S11 zurück, in dem er sich aufhielt. Zum Glück war ich nicht allein unterwegs und konnte die in der Fläche verteilten mir bekannten Ornithologen Erich Hauth, Ulrich Panzer (beide aus Köln) sowie Matthias Hambloch aus Bergheim/Erft zusammenrufen und auf meine Entdeckung aufmerksam machen. Herr Hambloch hatte seine Kamera dabei und schoss einige Belegfotos. Die anderen Beobachter stimmten bald mit meinem Verdacht überein, es könnte sich um einen nordamerikanischen Gelbschenkel handeln.

Kleiner Gelbschenkel, Escher Bürge, 10.5.1980. Foto: Heribert Schwarthoff

Kleiner Gelbschenkel, Escher Bürge, 10.5.1980. Foto:  Matthias Hambloch

Gegen Abend fuhr ich nach Hause, um meine eigene Kamera zu holen. Ich konnte noch Belegfotos machen, aber die Entfernung war recht groß und das Abendlicht nicht günstig. Handys gab es damals noch nicht, deshalb rief ich von zu Hause aus den in der Nähe wohnenden Limikolenberinger Franz Josef Caspers aus Elsdorf-Angelsdorf an, der sofort kam und „meinen“ Vogel auch noch intensiv studieren konnte. Obwohl ich ihm meine Verdachtsdiagnose nicht verraten hatte, kam auch Caspers zu der Überzeugung, dass wir einen Gelbschenkel entdeckt hatten. Leider war er am nächsten Tag verschwunden, so dass weitere inzwischen alarmierte Ornithologen ihn vergeblich suchten.

Insgesamt habe ich ihn über drei Stunden beobachten können, Zeit genug also, die Einzelmerkmale zusammenzutragen und zu notieren. Da mir sehr schnell klar wurde, dass ich unter meinen vielen unvergesslichen Watvogelerlebnissen an diesem Tag ein Highlight geschenkt bekam, schrieb ich sofort alle Einzelheiten auf, ganz bewusst vor Hinzuziehung der Bestimmungsbücher. Zu Hause in den nächsten Tagen habe ich dann meine Erinnerung und meine Notizen mit der erreichbaren Literatur verglichen und die Artbestimmung Tringa flavipes – Kleiner Gelbschenkel sichern können. Auch die Abgrenzung gegen den Großen Gelbschenkel (T. melanoleuca) gelang.

Die Fotos legte ich später noch dem inzwischen verstorbenen erfahrenen Feldornithologen Wolfgang Thomas von der Bezirksregierung Köln vor, der unsere Bestimmung bestätigte. Im Ornithologischen Sammelbericht für das Rheinland (Klein 1981) wurde die Beobachtung dann veröffentlicht mit dem Vermerk: Von der Seltenheitenkommission der Gesellschaft Rheinischer Ornithologen anerkannt.

Anders als heute, wo ein paar Mausklicks genügen, um eine Beobachtung richtig einordnen zu können, war es damals sehr viel schwieriger, Informationen über ungewöhnliche Vogelvorkommen zu erhalten. So kam es, dass mir nicht bewusst war, es könnte sich um die erste gesicherte Dokumentation eines Kleinen Gelbschenkels in Deutschland handeln. Das erfuhr ich erst zehn Jahre später, als Peter H. Barthel, der damalige Leiter des Bundesdeutschen Seltenheitenausschusses, nachhakte, das Beobachtungsprotokoll übernahm, auswertete und nach Anerkennung durch den Ausschuss in der Zeitschrift „Limicola“ bekannt gab (BSA 1991).

Fast das ganze Heft 6/1992 war den Gelbschenkeln gewidmet. Erst dadurch erfuhr ich, dass es zwar zahlreiche Beobachtungen des Kleinen und wenige des Großen Gelbschenkels in Irland und Großbritannien gab, aber auf dem europäischen Festland außer einigen ungesicherten Meldungen und einem Totfund 1959 in Ungarn erstmals ein halbes Jahr vor unserer Beobachtung in den Niederlanden ein Kleiner Gelbschenkel einwandfrei nachgewiesen und dokumentiert worden war (18./19. November 1979 – van den Berg & Bosman 1999). Der Große Gelbschenkel war bis dahin in Mitteleuropa überhaupt noch nicht gesehen worden.

Weitere zehn Jahre sollte es nach unserer Erstfeststellung dauern, bis im November/Dezember 1990 der zweite deutsche Nachweis gemeldet wurde, und zwar aus Bayern (Heiser 1992). Da inzwischen überraschenderweise unsere Bestimmungsmöglichkeiten einen ganzen Sprung nach vorn getan haben, gibt es seither eine Reihe weiterer gesicherter Beobachtungen in Deutschland.

Ich selbst hatte inzwischen mehrmals Gelegenheit, auf der Suche nach meinen geliebten Limikolen im Westen der Vereinigten Staaten dem Kleinen Gelbschenkel zu begegnen, zuletzt am 10. September 2011 an einem einsamen Gebirgsbach in den Sawtooth Mountains im Staate Idaho. Aber unvergesslich bleibt mir unser erstes Zusammentreffen hier zu Hause im Rheinland.

Danksagung:

Mein Dank geht an Frank-Michael Kiel-Steinkamp, der aus den 32 Jahre alten Dias das Beste herausgeholt hat.

Literatur

van den Berg, A. & C. Bosmann (1999): Rare birds of the Netherlands. Utrecht.

Bundesdeutscher Seltenheitenausschuß (1991): Seltene Vogelarten in der Bundesrepunblik Deutschland 1989 (mit Nachträgen 1977 bis 1988). Limicola 5: 186-220.

Heiser, F. (1992): Ein Kleiner Gelbschenkel Tringa flavipes im Winter in Bayern. Limicola 6: 81-84.

Klein, H. (1981): 28. Ornithologischer Sammelbericht für das Rheinland vom 16.3.1980 bis 15.9.1980. Charadrius 17: 52-64.

Schwarthoff, H. (1992): Der Kleine Gelbschenkel Tringa flavipes, eine neue Art für Deutschland. Limicola 6: 79-81.

Anschrift des Verfassers:

Heribert Schwarthoff

Heinrich-Röttgen-Str. 13

52428 Jülich