VdM 04/2016
Die Hakengimpel von Willebadessen
Von Eckhard Möller
Es war am Morgen des 25. Februar 1955, als der Revierförster Robert Backhaus an seinem Forsthaus am Rand der großen Waldbestände des Eggegebirges nahe Willebadessen im damaligen Kreis Warburg zwei ihm nicht bekannte Singvögel aus nächster Nähe und längere Zeit beobachten konnte. Seit mehr als acht Tagen lag eine geschlossene Schneedecke, und die Vögel fraßen in Schuhabdrücken offenbar Schnee, der möglicherweise dort mit Schmutz- und Jaucheteilchen durchsetzt war.
Aus nur zwei Meter Entfernung konnte Backhaus viele Einzelheiten erkennen: Die unbekannten Vögel waren braun-rötlich gefärbt bis auf den bräunlichen „etwas gezeichneten“ Flügel und den dunkleren Schwanz. Der kräftige Schnabel war, wie er später schilderte, „papagei- oder würgerartig“, d.h. der Oberschnabel war über die Spitze des Unterschnabels gebogen. Mit dieser gebogenen Spitze zogen sie den Schnee zu sich heran.
Die Beiden seien immer wieder zu den Fußstapfen zurückgekehrt, aber dann im Laufe des Vormittags verschwunden. Backhaus schilderte diese Erlebnisse per Telefon noch am selben Tag dem ostwestfälischen Ornithologen Joseph Peitzmeier (1897-1978), den er dann am folgenden Tag besuchte. Peitzmeier fragte Backhaus, ob es möglicherweise Kreuzschnäbel gewesen seien. Dieser wies aber darauf hin, dass er Kreuzschnäbel gut kenne und dass sie wegen der Form des Schnabels ausgeschlossen seien. Peitzmeier zeigte ihm die Abbildungen im Naumann, und da waren sich beide sicher: Die unbekannten Vögel von Willebadessen waren Hakengimpel (Pinicola enucleator).
Größe, Farbe und Schnabelform entsprachen den Bildern. Backhaus hatte auch einmal einen Lockruf gehört, der genau der Beschreibung in Niethammers Handbuch der deutschen Vogelkunde entsprach und auch von daher eine Verwechslung mit Kreuzschnäbeln ausschloss.
Hakengimpel, Finnland April 2011. Fotos: Christoph Moning
Peitzmeier begann, wie es seine Art war, sofort zu recherchieren, ob es eventuell einen Einflug von Hakengimpeln nach Norddeutschland gab. Seine Anfrage bei Prof. Ernst Stresemann in Berlin brachte ein negatives Ergebnis.
Überraschenderweise tauchte dann am 13. März 1955 wieder ein Hakengimpel-Männchen am Forsthaus bei Willebadesssen auf. Förster Backhaus versuchte es: „Wenn auch die Kugel aus der 6mm-Büchse den Vogel verfehlte…“(!), schrieb Peitzmeier (1955). Auf jeden Fall konnte Backhaus den Vogel jetzt „auf Grund von Größe, Farbe, Hakenschnabel einwandfrei als Hakengimpel“ identifizieren (S. 347).
Stresemann teilte Peitzmeier wenig später mit, dass im Heft März 1955 von ‚British Birds‘ eine Invasion von Hakengimpeln aus dem Winter 1954/55 beschrieben sei, die von Zentralschweden bis Schonen und bis Südwest-Norwegen beobachtet wurde. Mindestens ein Individuum habe auch Schottland erreicht.
Am 7. und 8. Januar 1955, möglicherweise schon im Dezember 1954, wurde auch auf der ostfriesischen Insel Wangerooge ein Hakengimpel beobachtet (Großkopf 1989).
Folgerichtig wurden die Hakengimpel von Willebadesssen in die „Avifauna von Westfalen“ (Peitzmeier 1969) aufgenommen.
Aber es waren nicht die ersten, die für Nordrhein-Westfalen dokumentiert sind. 1884 veröffentlichte der Wuppertaler Ornithologe A. Olearius in den Jahresberichten des Naturwissenschaftlichen Vereins Elberfeld eine ausführliche Arbeit über die „Vögel der Umgebung Elberfelds“. Darin erwähnt er, dass „vor wenigen Jahren“ eine größere Anzahl Hakengimpel („Fichtengimpel“) „bei Wipperfürth, jenseits der südöstlichen Grenze unseres Gebietes, auf dem Vogelherde gefangen“ worden sei, also an einem Drosselfangplatz. Ob auch Präparate angefertigt worden sind, ist heute nicht bekannt.
Da die Fänger die Vögel also lebend, dann tot in der Hand hatten, kann man davon ausgehen, dass die Angaben zutreffen. Im „Handbuch der Vögel Mitteleuropas“ (Glutz von Blotzheim 1997) wird darauf verwiesen, dass mit der Datierung „wenige Jahre vor 1884“ wahrscheinlich der Invasionswinter 1877/78 gemeint sei.
Le Roi (1906) und Mildenberger (1984) haben die Angaben von Olearius in ihre rheinischen Avifaunen übernommen, ebenso Thiele & Lehmann (1959) in ihre Arbeit über die Vögel des Niederbergischen Landes. Herkenrath (1995) führt die Hakengimpel in seiner „Artenliste der Vögel Nordrhein-Westfalens“ auf.
Bei unseren Nachbarn im Süden in Rheinland-Pfalz ist noch kein Hakengimpel nachgewiesen worden (Dietzen 2014). In den benachbarten Niederlangen sind bisher 7 Individuen anerkannt worden, nämlich zwei in 1909, je eins 1928 und 1996 und drei in 2004 (www.dutchavifauna.nl).
Zang (in Zang et al. 2009) führt für Niedersachsen eine ganze Reihe von Angaben aus dem 19. Jahrhundert auf, aber nur noch sechs Beobachtungen nach 1950 (darunter die von Wangerooge), von denen eine im Juni 1971 wahrscheinlich einen Vogel aus einer Haltung betrifft.
Nachrichten über Hakengimpel irgendwo in Nordrhein-Westfalen würden heute für mächtig Aufregung sorgen, auch weit über unser Bundesland hinaus…
Danksagung: Mein Dank geht an Christoph Moning für die vorzüglichen Fotos.
Literatur
Dietzen, C. (2014): Die Vögel in Rheinland-Pfalz – eine aktuelle Artenliste. In: C. Dietzen et al.: Die Vogelwelt von Rheinland-Pfalz Band 1, Mainz: 533-544.
Glutz von Blotzheim, U. (1997): Handbuch der Vögel Mitteleuropas, Band 14/II. Wiesbaden.
Großkopf, G. (1989): Die Vogelwelt von Wangerooge. Oldenburg.
Herkenrath, P. (1995): Artenliste der Vögel Nordrhein-Westfalens. Charadrius 31: 101-108.
Mildenberger, H. (1984): Die Vögel des Rheinlandes, Band 2. Düsseldorf.
Olearius, A. (1884): Die Vögel der Umgebung Elberfelds. Jahresberichte des Naturwissenschaftlichen Vereins in Elberfeld 6: 110-129.
Peitzmeier, J. (1955): Hakengimpel (Pinicola enucleator L.) in Westfalen. Journal für Ornithologie 96: 347-348.
Peitzmeier, J. (1969): Avifauna von Westfalen. Münster
le Roi, O. (1906): Die Vogelfauna der Rheinprovinz. Verhandlungen des Naturhistorischen Vereins der preußischen Rheinlande und Westfalens 63: 1-325.
Thiele, H. U. & H. Lehmann (1959): Die Vögel des Niederbergischen Landes. Jahresbericht des Naturwissenschaftlichen Vereins Wuppertal 18: 9-90.
Zang, H., Die Vögel Niedersachsens und des Landes Bremen – Rabenvögel bis Ammern. Naturschutz und Landschaftspflege in Niedersachsen, Sonderreihe B Heft 2.11. Hannover.
www.dutchavifauna.nl
Anschrift des Verfassers:
Eckhard Möller
Stiftskamp 57
32049 Herford