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VdM 02/2013

Der „Weiße Geist“ aus Norddeutschland im Winter 2011/2012

Von Armin Deutsch

Im Winter 2011/2012 gab es im nördlichen Europa einen der größten Einflüge von „white-winged gulls“ (überwiegend Polarmöwen, weniger Eismöwen). Unter ihnen hielt sich im norddeutschen Binnenland ein Vogel auf, der später von den Birdern als „weißer Geist“ bezeichnet wurde (Abb. 1) und für die allermeisten von ihnen (auch recht erfahrene dabei) eine Eismöwe im 2. Winterkleid war. Da ich das Glück, hatte dieses Individuum mehrmals aus geringer Distanz zu sehen und fotografieren zu können, möchte ich es vorstellen und eine etwas andere „Artdiagnose“ stellen.

Abb.1: „Der weiße Geist“, Deponie Pohlsche Heide 23.2.2012 (c) Armin Deutsch

Beim Betrachten einiger Details der hier gezeigten Bilder empfiehlt es sich, nicht senkrecht auf den Bildschirm, sondern von schräg unten zu schauen. Durch die dabei entstehende Unterbelichtung treten die sogenannten „ghosted pattern“ deutlicher hervor.

Am 17. Dezember 2011 sah ich auf der Deponie Pohlsche Heide im Kreis Minden-Lübbecke die fast weiße Möwe erstmals, als sie mit anderen Großmöwen im Müll einer Zwischenabladestelle nach Nahrung suchte. Nach kurzer Anspannung, ob ich nach längerer Zeit mal wieder eine der schicken Blondinen (bei einigen Ornithologen sind damit Polar- und Eismöwen gemeint) vor mir habe, bestimmte ich den Vogel recht schnell als leukistische Silbermöwe in ihrem 2. Winterkleid. Aus der Nähe wirkte die Möwe in dieser Situation mit ihrem anliegenden Gefieder, vom Jizz wie eine Silbermöwe, mit meist weißen Federn am ganzen Körper, aus denen nur wenige ungezeichnete rotbraune hervortraten (Abb. 2).

Abb.2: Seitenansicht links, Deponie Pohlsche Heide 17.12.2011 (c) Armin Deutsch

Bei Auseinandersetzungen mit den Silbermöwen hielt sie die Flügel länger offen, sodass ich vor Ort gleich schon ihre von innen nach außen dunkler werdenden Handschwingen sehen konnte, was gleich gegen eine „white-winged gull“ sprach. Ohne auf weitere Details zu achten, speicherte ich die Bestimmung „leukistische Silbermöwe im 2. Winter“ fest in meinem Kopf ab.

Auf den Fotos am PC achtete ich nur noch mal auf die Zeichnung des Handflügels und ob ich bei den rotbraunen Federn irgendeine feine Ziselierung (typisch für Eis- und Polarmöwen) erkennen konnte, fand aber keine. Mal eine nette Beobachtung, berichtete nur Jörg Hadasch (Vlotho) kurz davon und dachte, die sehe ich bei dem enormen Austausch auf dieser Deponie sowieso nicht wieder.

Am 14. Januar 2012 beobachteten Dieter Schmidt-König und Christopher König eine Eismöwe in ihrem 2. Winterkleid auf dem Wietersheimer Baggersee, einem Sammelgewässer nahe Minden, etwa 12 Kilometer von der Deponie Pohlsche Heide entfernt (Abb. 3).

Abb.3: Wietersheim 14.1.2012 (c) Christopher König

Mir war schnell klar, dass es sich um „meinen“ Silbermöwen-Leukisten handelte, hatte ich ihn doch Stunden zuvor  noch auf der Deponie gesehen.

Die Fotos von Christopher König und weitere veröffentlichte Fotos (Abb. 4) von Jörg Hadasch

Abb.4: Kreis Minden-Lübbecke 4.1.2012 (c) Jörg Hadasch

(der wie ich die Möwe zwischenzeitlich noch wenige Male gesehen hatte) brachten unter den Ornithologen eine Diskussion in Gang, die die Bestimmung Eismöwe bekräftigte und die denen vom Bauchgefühl irgendwas an der Möwe nicht stimmte.

Erst nach der Beobachtung vom 14. Januar begann ich mir meine Bilder genauer anzuschauen und intensiver mit Feldkennzeichen der Eismöwe und Eismöwe x Silbermöwe-Hybriden zu beschäftigen! Bis dahin war mir nicht bewusst geworden, dass es auch Eismöwen im 2. Winter eines fast „weißen Färbungstyps“ gibt, der nicht durch Ausbleichen entsteht (dies erfolgt in der Regel ja meist auch erst im Frühjahr deutlich).

Bis zu ihrer letzten Beobachtung durch mich am 28. März 2012 in Hävern (MI) wurde die Möwe noch häufiger im Bereich um Minden gesehen und unternahm zwischendurch Ausfüge in den Braunschweiger Raum (Ende Januar und Mitte März),  sowie nach Bremen (Ende Februar).

http://www.club300.de/gallery/index.php?gal=1&cat=0&mode=1&val=408

Das Individuum von Bremen habe ich anhand der Lage vieler verdunkelter Schaftstriche auf den kleinen Armdecken wieder erkannt. Bei dem im Braunschweiger Raum bin ich mir vom Gefühl fast sicher, dass es der „Weiße Geist“ war, nicht nur aufgrund seines Erscheinungsbildes. Einzelne farbberingte Silbermöwen, die ich an den Tagen im Mindener Raum mit ihm sah, waren teilweise anschließend fast zeitnah in Braunschweig abgelesen worden (gleiches gilt auch für Bremen) und in einem Fall sogar zeitlich sehr nah wieder im Mindener Raum mit ihm anwesend!

Beschreibung des Vogels

Bei der Beschreibung fließen oft subjektive Eindrücke ein, die sich aus 20 Jahren Möwenbeobachtung ergeben. Persönlich habe ich keine 10 Eismöwen (adulte und 1.Winter) live gesehen. Wenn keine Altersangaben gemacht werden, sind Vögel im 2. Winter gemeint.

Gesamteindruck (Jizz): Aus der Nähe, insbesondere bei der Nahrungssuche neben anderen Großmöwen (mit angelegten Federn) war mein „Bauchgefühl“ beim Anblick der Möwe meist Silbermöwe. Aus größerer Beobachtungsdistanz, vor allem wenn sie entspannt (mit lockerer getragenem Gefieder) schwamm, kam der leichte Größenunterschied zu den kleineren Silbermöwen besser raus, und sie wirkte wie eine Eismöwe (vergleiche die entsprechenden Fotos aus Bremen und Braunschweig). Wie andere Beobachter ließ mich dieser wechselhafte Eindruck von der Möwe auch schon mal denken, ob es nicht doch verschiedene Individuen sind (s. aber oben).

Die sichtbare Gesamtfärbung am stehenden Vogel war weiß mit einzelnen schwach rotbraunen „eingestreuten“ Federn. Bislang ging ich bei diesem Farbton immer davon aus, dass dies nur ein Hinweis auf Leukismus ist (Verringerung, aber nicht völliges Fehlen von Farbpigmenten in den Federn). Bei völligem Fehlen der Pigmenteinlagerung in einzelnen Federn spricht man von teilalbinotisch (Bezzel & Prinzinger 1990). Auffällig sind, wie schon erwähnt, weiterhin einige stark verdunkelte Schaftstriche vor allem der kleineren Armdecken. Doch dies entspricht auch dem „weißen Färbungstyp“ von Eismöwe im 2. Winter, von denen im selben Winter z.B. in den Niederlanden und Schottland welche gesehen wurden:

http://waarneming.nl/fotonew/3/3002963.jpg rechte Seite schwimmend NL

http://waarneming.nl/fotonew/7/3002407.jpg open wing NL (extrem breite Flügel)

http://chrisgibbins-gullsbirds.blogspot.de/2012_03_01_archive.html

Der Flügelüberstand über das Steuerende war sehr kurz, viel zu kurz für jede nicht mausernde Silbermöwe. Alle Handschwingen waren in gutem Zustand und schienen nicht (kaum) abgenutzt zu sein (recht runde unausgefranzte Enden). Die Schirmfedern zeigten meist keine deutliche Stufe in der Oberseiten-Schwingen-Linie, was bei Eismöwen (und auch Mantelmöwen) häufiger zu sehen ist.

Vor allem am Kopf wandelte sich der Eindruck über das Aussehen recht schnell, je nach Blickwinkel  (Schnabelform) oder der Federstellung. Sie konnte ein relativ Silbermöwen ähnliches (Abb 5), oder aber kantiges, flachstirniges Kopfprofil zeigen, vor allem beim Zu-Boden-Schauen (Abb 6). Schwach war eine breite Schlichtkeid-Strichelung auf dem Oberkopf und Brustbereich zu erkennen, sehr schwach dagegen am Hinterkopf zu erahnen.

Abb.5: Silbermöwen-ähnlich, Deponie Pohlsche Heide 9.2.2012 (c) Armin Deutsch

Abb.6: Eismöwen-ähnlich, Deponie Pohlsche Heide 9.2.2012 (c) Armin Deutsch

Das Auge empfand ich im Verhältnis zur Kopfgröße recht groß (wie bei Silbermöwe). Die Färbung der Iris war sehr hell, manchmal  mit einem ganz schwachen grünlichen Anflug, was typisch für Eismöwen dieses Alters wäre. Bei Silbermöwen sind derart helle Iriden im 2.Winter nicht häufig, sie zeigen eher noch einen leicht verdunkelten Schleier. Die „Augenklammern“ um den Ober- und Unteraugenrand waren schwach wie bei Silbermöwen ausgebildet.

Der Schnabel zeigt eine typische Eismöwen-Färbung (die auch bei Silbermöwen dieses Alters ähnlich vorkommen kann, dann mit längerem Schwarzanteil auf dem Unterschnabel), besaß aber eine Form, die mich eher an eine Silbermöwe erinnerte. Die relativ stark gebogene Unterschnabelaußenseite und ein Gonys-Eck, das grob am Spitzendrittel beginnt (und nicht Spitzenviertel), erzeugten eher ein ausgewogenes und nicht so „langnasiges“ Aussehen. Je nach Blickwinkel konnten Ober- und Unterschnabel-Außenseiten auch nahezu parallel verlaufend wirken. Außerdem schienen beide Schnabelseiten des „Geistes“ leicht unterschiedlich geformt zu sein. Es gibt natürlich auch bei Eismöwen Individuen, die einen Silbermöwen-ähnlichen Schnabel zeigen können (meist Weibchen), regelmäßiger wohl bei der in Nordwestalaska vorkommenden (kleineren) Form barrovianus.

Ober- und Unterschwanzdecken sind Federbereiche, die eine deutlichere Zeichnung zeigten (s. Abb. 7 und 8). Die recht schmale und dicht zusammen liegende Bänderung dieser Decken und des Bürzelbereichs kenne ich so flächig über beide Bereiche  nicht bei der europäischen Silbermöwe. Zwar besitzen auch diese im 2. Winter oft eine engere Bänderung als noch im 1. Winter, die Flecken auf den Oberschwanzdecken sind jedoch dicker und liegen etwas weiter auseinander (Abb 9). Eine typische Zeichnung also für Eismöwe (oder auch Polarmöwe).

Abb.7: Unterschwanzdecken, Deponie Pohlsche Heide 17.12.2011 (c) Armin Deutsch

Abb.8: Oberschwanzdecken und Steuer, Deponie Pohlsche Heide 9.2.2012 (c) Armin Deutsch

Abb.9: Silbermöwe 2. Winter (in Norwegen geboren), Deponie Pohlsche Heide 28.12.2012 (c) Armin Deutsch

Die Schwanzendbinde ist in Unterbelichtung auch auf wenigen meiner Fotos zu deuten. Sie ist wohl eher typisch für eine Eismöwe, mit keiner sich deutlich abhebenden Endbinde und mit den beiden mittleren, nur schaftnah gezeichneten Steuerfedern (Abb. 8).  Je nach Blickwinkel meine ich manchmal eine schwache Unterteilung in drei Endbinden zu erkennen. Bei der großen Variabilität  und der Neigung zur feineren Zeichnung insbesondere der Schwanzendbinde hat auch ein Teil der Silbermöwen eine über die Steuerfeder verteilte und nicht auf eine Endbinde konzentrierte Zeichnung.

Oberflügelzeichnung: Bei der Suche nach dem Aussehen des Oberflügels einer Eismöwe im 2. Winter bin ich in den Bestimmungsbüchern und im Internet nur selten fündig geworden. Die Intensität, mit der ich die Suche betrieben habe, war allerdings auch nicht sehr hoch. Zur recherchierten Literatur fehlte mir teilweise die Zugänglichkeit. Es mangelte zwar nicht an Fotos, diese zeigen fast nur Vögel in Seitenansicht oder schon mal einen Unterflügel. Die meisten brauchbaren Fotos entstanden im letzten Winter. Ob dies am eingangs erwähnten Einflug oder eher an der deutlich gestiegenen Nutzung von guten digitalen Kameras liegt, sei dahingestellt.

Die wenigen gesehenen Eismöwen-Oberflügel (egal ob von kontrastreich gefärbten Individuen oder vom „weißen Färbungstyp“) ließen Folgendes erkennen: Es zeigten nahezu alle Handschwingen (H) eine Verdunkelung (die äußere H10 war immer die hellste). Entweder war die Intensität  auf allen ungefähr gleich ausgeprägt z.B

http://www.biotope.no/2012/01/gullfest-arctic-birding-highlight-of.html

oder, was scheinbar häufiger vorkommt, die innersten sind deutlich intensiver gefärbt (bis in die Spitzen), und nach außen nimmt die Verdunkelung ab, mit immer größer werdendem hellen Spitzenbereich der Handschwingen (s. auch Grant (1986): 148):

http://gulldk.blogspot.de/2012/02/glaucous-gull-larus-hyperboreus-3cy.html

Der „weiße Geist“ zeigt genau eine umgekehrte hell/dunkel Verteilung, nämlich die einer „black-winged gull“ (Abb. 10). Die äußeren Handschwingen waren deutlich verdunkelter, auch auf der Außenfahne und bis in die Spitze (HS 7-10). HS 7 zeigt eine merkwürdige Auflösung in drei verdunkelte Bereiche. Die nach innen anschließenden H6 + H5 waren ähnlich H7 gefärbt, nur wesentlich blasser. Die innersten HS waren nahezu weiß, mit nur leichter Verdunkelung im Spitzenbereich. Dies war ab Februar kaum noch auf meinen Fotos zu erkennen, da nahezu alle Federn im Laufe des Winters weiter ausgeblichen sind.

Abb.10: Oberflügel, Foto in den Halbtönen, Kontrast und der Helligkeit verändert, Deponie Pohlsche Heide 9.2.2012 (c) Armin Deutsch

Die Grossen Handdecken (GHD) sind bei Eismöwen flächig bis in die Spitze verdunkelt oder mit aufgehelltem Spitzensaum (mit sichtbar eingelagerten Pigmenten), der sich auf der Außenfahne fortsetzen kann. Bei Silbermöwen im 2. Winter sind die GHD oft flächig verdunkelt, meist dunkler auf der Außenfahne, und einem scharf begrenzten weißlicheren Spitzensaum (of scheinbar unpigmentiert, s. auch Abb. 9). Diesen unpigmentierten Spitzensaum zeigt auch der „weiße Geist“.

Eine weitere „Regelmäßigkeit“ (soweit man das bei den wenigen Eismöwen-Individuen sagen kann, die ich darauf überprüfen konnte) der Oberflügelzeichnung waren die innersten (5-7) großen Armdecken, die meist die dunkelsten Federn des gesamten Oberflügels waren und die deutlichste Ziselierung zeigten. Der „Geist“ zeigt die äußeren Großen Armdecken (GAD) noch verdunkelt, die inneren erscheinen nahezu weißlich (ohne eine erkennbare Zeichnung). Einige Eismöwen zeigten einzelne der mittleren GAD deutlich heller als alle anderen (ähnlich wie die mittleren Steuerfedern), was ich bei Silbermöwen bisher nicht sah.

Die wenigen fein ziselierten Federn, die ich überhaupt auf meinen Fotos an dem „Geist“ fand,  waren neben den Steuerfedern drei der innersten Armschwingen (auf jeder Seite) –  in einem Bereich, der auch oft recht kontrastreich bei Eismöwen gezeichnet ist – sowie einzelne Punkte auf den unteren Schirmfedern (Abb.8) . Der „Geist“ zeigt eine hell/dunkel Verteilung auf dem Oberflügel wie eine Silbermöwe im 2. Winter, außer dass die inneren Armschwingen und GAD (fast) keine Zeichnung zeigen.

Ich fand allerdings gute Bilder von zwei „Eismöwen“, die nicht dem o.g. Eismöwen-Schema entsprachen und meiner Meinung in beiden Fällen auf Hybrideinfluß hindeuten, auch wenn der Vogel aus Prag (dritter Link) Eismöwen-Jizz zeigt. Die ersten beiden Bilder zeigen dasselbe Individuum, den dänischen Kommentar dazu kann ich nicht lesen.

http://www.netfugl.dk/pictures.php?id=showpicture&picture_id=25218

http://www.netfugl.dk/pictures.php?id=showpicture&picture_id=25096 SM Jizz 11.1.2009 DK

http://natureblink.com/ptaci6/L-hyper_0645.jpg Prag Jan. 2012.

Eismöwen besitzen einen relativ breiten, allerdings im Verhältnis zum Handflügel auch langen Armflügel. Dies führt bei einer  fliegenden Eismöwe nicht, wie in der Literatur schon mal geäußert, zu  Kurzflügeligkeit. Nach meinem persönlichen Eindruck, insbesondere  wenn nicht die volle Breite des Flügels gesehen wird, hatte ich schon wenige Male den Eindruck von Langflügeligkeit bei Eismöwen (so unterschiedlich können Eindrücke sein). Insgesamt empfinde ich den Armflügel  des „Geistes“ als zu schmal und zu kurz für eine Eismöwe.

„Artdiagnose“

Aufgrund der Oberflügel-, insbesondere der Handschwingenzeichnung, ergänzt durch einige intermediäre Kenzeichen, handelt es sich beim „Geist“ meiner Meinung nach um einen Eismöwen x Silbermöwen-Hybriden (wohl in 2. oder 3. Generation) .  Vom Aussehen kommt er insgesamt der Eismöwe am nächsten. Einen Eismöwen x Mantelmöwen-Hybriden, der in der Literatur ebenfalls erwähnt wird, schließe ich aufgrund des immer wieder empfundenen Silbermöwen-Jizz aus.

In der europäischen Ornithologen Szene wird bei mutmaßlichen Silbermöwen x Eismöwen-Hybriden meist von einer „Viking Gull“ gesprochen und im nordamerikanischen Raum von „Nelson`s Gull“. Dort beruht der Name auf einer „Artbeschreibung“ von Henshaw 1884, der Individuen beschrieben hat, die E. W. Nelson gesammelt hat und nach damaliger Meinung vermutlich EM x SM  betrafen (eine pdf-Datei dieses Artikels sowie Fotos von Nelson`s Gulls sind bei http://larusology.blogspot.com/2009/11/nelsons-gull.html

zu sehen).

Warum der Vogel  trotz Hybrideinfluß so weiß ist (so wie eine Eismöwe vom „weißen Färbungstyp“), erschließt sich mir nicht ganz. Da ich mich mit der Vererbungslehre nicht auskenne, sind meine nachfolgenden Ausführungen auch nur spekulativ. Bei meinen Gedankengängen gehe ich immer davon aus, dass ein Hybrid (auch in nachfolgender Generation) phänotypisch irgendwo zwischen den Eltern liegt. In dem Fall vermutlich zwischen einem Silbermöwen x Eismöwen-Hybriden und einer Eismöwe. Aus diesem Grund schließe ich Leukismus nicht aus. Die Unterflügelfärbung  ist im Verhältnis zur Färbung der Oberseite ähnlich blass. Normalerweise zeigen diese dem Licht abgewandten Bereiche eine intensivere Färbung.  Möglicherweise hat es die gleichen Ursachen, die Leukismus  und den „weißen Färbungstyp“ erzeugen?

Umfangreiche Untersuchungen über Hybridisation der beiden Arten führte Ingolfsson (1970) Mitte der 1960er Jahre auf Island durch. Er beurteilte dies anhand der Handschwingenzeichnung von 371 adulten gesammelten Individuen am Brutplatz (verteilt in 13 Kolonien von NE- über S- bis NW -Island). Die Silbermöwe besiedelte Island in den späten 1920er Jahren, wahrscheinlich von den britischen Inseln aus (Unterart argenteus). Relativ schnell begannen einige Neubesiedler mit der dort vorkommenden Eismöwe zu hybridisieren. Gerade Neubesiedler neigen, insbesondere bei Partnermangel der eigenen Art, zur Verpaarung mit nah verwandten Arten (bei Möwen auch in neuerer Zeit häufig dokumentiert).

Ingolfsson fand eine Häufung der Hybriden in den südlichen und östlichen Landesteilen (wo die Eismöwe zu seiner Untersuchungszeit überwiegend fehlte), mit bis zu 57% der gesammelten Individuen die eine intermediäre Handschwingenzeichnung zeigten (in den NW-Landesteilen immerhin noch einen Anteil bis zu 20%).  Bis in die heutige Zeit hat sich das fortgesetzt, und man spricht hier von einer Hybridpopulation (Hybridzone nach Helbig 2000). Aktuelle Zahlen über den Umfang liegen mir nicht vor.  Ingolfsson  untersuchte auch Bälge aus vielen Museen, insbesondere auch Nordamerikas, und führte eine Literaturrecherche durch. Dabei berichtet er von einem Fall aus Spitzbergen. Entgegen meiner Erwartung gab es kaum Hinweise auf Hybridisation in Nordamerika.

Erst Spear (1987) wies in NW-Kanada, im Mackenzie Delta, durch Beobachtung an diversen Stellen am Land und auf dem Meer unter 1098 adulten „Eismöwen“ anhand der  Handschwingenzeichnung 8 Silbermöwen (0,7% – eine Silbermöwen-Kolonie war 75 km im Landesinneren bekannt) und 51  (4,4%) Hybriden nach. Zusätzlich beobachtete er am Strand ein Einzelpaar mit zwei fast flüggen pulli, das aus einer Eismöwe (Weibchen) und einer Silbermöwe (Männchen, meiner Meinung schon ein Hybrid) bestand. Das Paar, einer der adulten Hybriden und ein intermediäres juveniles Individuum aus der nahen „Eismöwen“-Kolonie werden durch Fotos in der Arbeit dokumentiert.

Als Auslöser für die Hybridisation führen beide u.a. die Zunahme des Menschen in den arktischen Gebieten an, was in der Folge durch Angebot neuer Nahrungsressourcen für die Silbermöwen ein Zusammentreffen dieser nah verwandten Arten sehr begünstigt hat.

Des Weiteren gibt es auch aus neuerer Zeit eine ganze Reihe von im Winterquartier beobachteten vermutlichen Hybriden dieser beiden Arten. Dies sind fast ausschließlich Individuen im ersten Winterkleid, die vom Erscheinungsbild meist der Silbermöwe nahe stehen. Möglicherweise werden die der Eismöwe ähnlicher sehenden Individuen leichter übersehen. Es könnte auch sein, dass sie nicht nur ihr Äußeres von den Eismöwen mitbekommen haben, sondern auch ihr Zugverhalten, was sie selten in Regionen führt, in denen es eine hohe Dichte an Ornithologen gibt. Es könnte auch sein, dass sie „erkannt“ werden, dies aber als natürliche Variationsbreite der Eismöwe angesehen wird.

Sternkopf et al. (2010) beschreiben nach Untersuchungen der mitochondrialen DNA und AFLP loci ein Szenario (ich hoffe, ich gebe das einigermaßen richtig wieder), wonach die nearktische Eismöwe, die u.a. smithsonianus als Vorfahr hat, Europa besiedelte und dort stark und länger mit der nördlichen argentatus hybridisierte. Anschließend isolierte sie sich reproduktiv hier wieder von argentatus (Anmerkung von mir: Mit erneuter Hybridisierung in den letzten 90 Jahren auf Island).

Nachdem ich merkte, dass selbst erfahrene Ornithologen sich nicht dazu durchringen konnten, den „weißen Geist“ als Eismöwen x Silbermöwen-Hybrid zu bestimmen (natürlich nur die, die auch einige meiner Fotos gesehen hatten), fragte ich zwei erfahrene Möwen-Experten. Chris Gibbins aus Schottland wollte sich nicht auf eine klare Aussage festlegen, tendiert eher zu einer Eismöwe, kann  einen Hybriden (backcross/second gen) aber auch nicht ausschließen. Bruce Mactavish aus Kanada sprach sich sofort für eine Eismöwe im 2. Winter innerhalb ihrer natürlichen Variationsbreite aus! Einzig den Haken des  Oberschnabels empfand er untypisch. Leider bin ich nicht mit ihm in die Diskussion gegangen.

Nach den Ergebnissen von Sternkopf et al. (2010) wäre es durchaus denkbar, dass nordamerikanische immature Eismöwen (als deren Urahne u.a. smithsonianus angesehen wird) noch einen von innen nach außen verdunkelten Handflügel zeigen könnten. Bei den in Europa vorkommenden Eismöwen glaube ich nicht an derartige Kennzeichen, da sie nie Eingang in die Bestimmungsliteratur genommen haben und auch die recherchierten Fotos (vermutlich überwiegend paläarktische Eismöwen) das oben beschriebene Bild zeigen.

Der „weiße Geist“ hat eine eindeutige Hell-Dunkel-Verteilung auf dem Handflügel wie eine black-winged Gull, so dass es meiner Meinung nach nicht Reste einer länger zurückliegenden Hybridphase (s. Sternkopf et al. 2010) sind, sondern Resultat einer aktuellen Hybridisation.

Als Argument gegen die Bestimmung des „weißen Geistes“ als Hybrid wurde mir entgegengebracht, dass es bei der zweiten white-winged Gull im Bunde, der Polarmöwe (bei der von einigen als Unterart der Polarmöwe angesehenen Form kumlieni), eine solche Zeichnung vorkommen kann. Warum dann nicht auch bei immaturen Eismöwen?

Ich schließe mich der These an, wonach kumlieni ihre dunkleren äußeren Handschwingen durch Hybridisation der Polarmöwe mit der Thayer`s Gull (Larus thayeri) in „jüngerer“ Zeit bekommen hat, da sie mir am logischsten erscheint. Die Thayer`s Gull „entstand“ durch Hybridisation der Polarmöwe mit einer black-winged Gull in „älterer“ Zeit  (mein Favorit ist da die California Gull L. californicus, die ihr das Winterquartier, eine relativ dunkle Oberseite und die stark gekörnten Augen mitgegeben hat). Dies ist zwar eine ungewöhnliche „Konstellation“, doch fände ich es unwahrscheinlicher, dass kumlieni ihr Aussehen (was teilweise mit der Thayer`s Gull überlappt und eine verhältnismäßig große Variationsbreite zeigt ) zufällig durch reproduktive Isolation mutiert sein soll und auch zufällig noch stark gekörnte Iriden dazubekommen hat. Noch 2005 machten de Knijff et.al. zu diesem Komplex keine Aussagen (weder in die eine noch andere Richtung) und sprachen die Hoffnung aus, dass ein junger ambitionierter Wissenschaftler „…will pick up this Arctic challenge…“.

Solange zeigen Polarmöwen, oder eben auch Eismöwen, die von innen nach außen dunkler werdende Handschwingen  besitzen, immer einen Hybrideinfluß an!

Auf Fotos von Eismöwen aus dem nordpazifischen Raum (Malling Olsen 2004) und im Winter 2011/12  (siehe die Links oben) gibt es gehäuft Bilder von dem „weißen Typ“ zu sehen. Da stellt sich mir die Frage, wie häufig zeigen Eismöwen im 2. Winter im Verhältnis zu den kontrastreichen diesen Färbungstyp? Es scheint so zu sein, dass er im asiatischen und nordamerikanischen Raum häufiger zu sehen ist. Gibt es Nachweise des „weißen Färbungstyps“ von in Europa geborenen Eismöwen?

Schön wäre für mich, von vielen weiteren Eismöwen dieses Alters die Oberflügelzeichnung zu sehen, um das Ausmaß der Variation sowohl der Intensität, vor allem aber der Verteilung hell/dunkel der von mir als „regelmäßig“ beschriebenen Kennzeichen abschätzen zu können. Dafür sollten verstärkt Eismöwen-Küken (das Aussehen deren Eltern phänotypisch bekannt ist und möglichst Hybridpaare einschließen) im gesamten Verbreitungsgebiet beringt und anschließend die Feldkennzeichen dieser Vögel studiert werden …

Für sachdienliche Hinweise und Zurechtrücken meiner teilweise vielleicht komplizierten  Gedankengänge zu diesem Thema, Links auf Fotos (auch auf die „Gefahr“, dass ich sie schon kenne), aber  insbesondere begründete andere Meinungen würde ich mich sehr freuen.

Danksagung

Für Unterstützung bei der Recherche und Informationen unterschiedlichster Art, möchte ich Andreas Buchheim, Detlef Gruber, Christopher König und Eckhard Möller danken.

Literatur

Bezzel, E. & R. Prinzinger (1990): Ornithologie. Stuttgart.

Grant, P.J. 1986: Gulls, a guide to identification. London.

Helbig, A. J. (2000): Was ist eine Vogel-“Art”? – Ein Beitrag zur aktuellen Diskussion um Artkonzepte in der Ornithologie, Teil I. Limicola 14: 57-79.

Henshaw, H.W. 1884 : On a new gull from Alaska. Auk 1: 250-252

de Knijff, P., A. J. Helbig, D. Liebers (2005): The Beringian Connection: Speciation in the herring gull assemblage of North America. Am. Birding 37: 402-411.

Ingolfsson (1970): Hybridization of Glaucous Gulls (L. hyperboreus) x Herring Gulls (L. argentatus) in Iceland. Ibis 112: 340-362.

Malling Olsen, K. & H. Larsson (2004): Gulls of Europe, Asia and North America. London.

Spear, L. B. (1987): Hybridization of the Glaucous and Herring Gull at the Mackenzie Delta Canada. Auk 104: 123-125.

Sternkopf, V.,  D. Liebers-Helbig, M. Ritz, J. Zhang, A. J. Helbig, P. de Knijff  (2010): Introgressive hybridization and the evolutionary history of the herring gull complex revealed by

mitochondrial and nuclear DNA. Evolutionary Biology  10: 18 S.

Anschrift des Verfassers:

Armin Deutsch

Bruchweg 2

33739 Bielefeld-Jöllenbeck

armin-sabine.deutsch(at)t-online.de