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VdM 08/2010

Die Zwergammer von Lünen-Schwansbell

Von Karl-Heinz Kühnapfel

Kläranlagen und Mülldeponien sind für den Normalbürger sicher keinen Besuch wert, wohl aber für Ornithologen. Kläranlagen mit ihren Schlammbecken sind ideale Anziehungspunkte für verschiedene Watvögel und Mülldeponien gute Nahrungsquellen für überwinternde Möwen. Die Kläranlage Lünen-Schwansbell im Kreis Unna eignete sich vorzüglich zur Erfassung der durchziehenden Limikolen. Allein im Zeitraum von 1972 bis 1985 konnten dort 27 Arten festgestellt werden (Kühnapfel 1994).

Der 22. April 1978 war ein sonniger und milder Frühlingstag. Bei der gewohnten Watvogelzählung flogen vor mir plötzlich vom grasbewachsenen Rand eines Klärbeckens zwei Kleinvögel auf, welche ich als Rohrammern ansprach. Auffällig war nur, dass das eine Individuum ähnlich wie eine Singdrossel „zipp“ rief – und nicht „zi eh“, wie es sich für eine Rohrammer gehört.

Der Ruf machte mich hellwach, und ich dachte, das kann nur was Besonderes sein. Zu meiner großen Freude setzte sich der Zipp-Rufer auf einen trockenen Gänsefußstengel über tiefschwarzem Klärschlamm, eine tolle Präsentation.

Auf knapp 20m Entfernung konnte ich bei bestem Licht mit einem 8×40-Fernglas folgende Merkmale feststellen: Sofort auffallend die rostroten Wangen, welche dunkel umrandet waren, deutlich weißer Augenring, darüber ein breiter weißlich bis rahmfarbener Überaugenstreif. Auf der Mitte des Kopfes – die Kopffedern wurden gesträubt – ein angedeuteter heller Mittelstreifen. Ober- und Unterseite ähnelten der Rohrammer. Während der Beobachtung erregtes Schwanzzucken und mehrmals „zipp“- oder “zick“-Rufe.

Aufgrund dieser Merkmale bestimmte ich den Vogel als Zwergammer (Emberiza pusilla). Das zweite Individuum war aber ein Rohrammer-Weibchen, rief „zi eh“ und bot einen guten Vergleich: Die Zwergammer war kleiner. Beim Näherkommen flogen beide Vögel zusammen ab und landeten etwa 200m südwestlich auf der Mülldeponie.

Eine halbe Stunde intensiver Beobachtung (ab etwa 13 Uhr) war vergangen. Bedauerlich war natürlich, dass ich keine Kamera dabei hatte. Das digitale Zeitalter hatte noch nicht begonnen – im Nachhinein aber ein Segen, denn es trat keine Hektik auf, und man konnte sich voll auf die Beobachtung konzentrieren. Ein Handy stand mir selbstverständlich damals noch nicht zur Verfügung.

Also schnell nach Hause, um einen weiteren Beobachter zu informieren. Manfred Koch aus Dortmund, von Beruf Apotheker, kannte diese Art aus Finnland und versprach, am Nachmittag zu kommen. Nach Studium des „Peterson“, der die Richtigkeit meiner Zwergammerbeobachtung bestätigte, hetzte ich wieder zurück zur Kläranlage Schwansbell. Diesmal (es war gegen 15 Uhr) fand ich die kleine Ammer in Gesellschaft eines Rohrammer-Männchens auf dem Mitteldamm eines Klärbeckens. Die Zwergammer war sehr scheu und flog wieder Richtung Mülldeponie.

Leider musste ich aus beruflichen Gründen die weitere Beobachtung abbrechen. Am Abend rief mich Manfred Koch an und berichtete, dass er gegen 16 Uhr die Zwergammer auf dem Damm der Kläranlage bestätigen konnte. Eine Nachsuche am 24. April blieb leider erfolglos.

Fotos: Die Zwergammer, wie man sie in Deutschland am ehesten sieht: auf Helgoland. Oktober 2007 (Fotos: Jan Ole Kriegs)

Das Verbreitungsgebiet der Zwergammer erstreckt sich von Nordosteuropa bis nach Sibirien, als Überwinterungsgebiet wird China genannt. Vereinzelt erscheinen auch Vögel in Mittel- und Westeuropa.

Die Lünener Zwergammer wurde von der Seltenheitenkommission der Westfälischen Ornithologengesellschaft (WOG) anerkannt (Fellenberg 1981). Diese Anerkennung wurde später vom Bundesdeutschen Seltenheitenausschuss bestätigt (BSA 1989). Es war der erste Nachweis im Landesteil Westfalen.

Aus Nordrhein-Westfalen liegen erst sehr wenige Nachweise dieser kleinen Ammer vor:

– Am 14. März 1976 eine in Essen-Überruhr (Demuth, Maué & Schulte nach Mildenberger 1984).

– Am 4. Mai 1990 sah Siegmar Müller am Ortsrand von Kleinkönigsdorf (Rhein-Erft-Kreis) auf wenige Meter Distanz eine Zwergammer und konnte auch ein Foto machen (das aber leider nicht im Archiv der AviKom vorliegt) (von der DSK anerkannt – DSK 1992).

– Am 19. Mai 1991 entdeckte Wolfgang Bomble in Aachen-Jüttenkuhl eine Zwergammer (von der Seltenheitenkommission der Gesellschaft Rheinischer Ornithologen anerkannt).

– Am 14. Oktober 1999 konnte Jan Ole Kriegs in den Rieselfeldern Münster eine Zwergammer beobachten (von der DSK anerkannt – DSK 2005).

Niermann (1965) listet in seiner Arbeit über die „Vogelwelt der Staustufe Schlüsselburg …“ eine Zwergammer-Angabe von G. Hoyer (Hannover) vom 29.2.1964 auf, die aber später nicht in die „Avifauna von Westfalen“ (Peitzmeier 1969) übernommen worden ist (siehe auch Harengerd & Prünte 1970, S. 21).

„Die Uhr tickt“ – das ist ein schwieriger Satz, den Grundschüler richtig zu schreiben lernen müssen. Da es also auch kleine braune Vögel gibt, die „ticken“, muss sofort Alarmstufe Rot herrschen, wenn da ein Beobachter im Gelände einen von ihnen mit einem solchen Ruf in der nächsten Deckung verschwinden sieht. Es könnte eine Zwergammer sein…

Danksagung

Bedanken möchte ich mich bei Eckhard Möller (AviKom) für seine Hilfe bei den Zwergammer-Recherchen.

Literatur

Bundesdeutscher Seltenheitenausschuss (1989): Seltene Vogelarten in der Bundesrepunblik Deutschland von 1977 bis 1986. Limicola 3: 157-196.

Deutsche Seltenheitenkommission (1992): Seltene Vogelarten in der Bundesrepunblik Deutschland 1990. Limicola 6: 153-177.

Deutsche Seltenheitenkommission (2005): Seltene Vogelarten in Deutschland 1999. Limicola 19: 1-63.

Fellenberg, W. (1981): 2. Ornithologischer Sammelbericht für Westfalen. Charadrius 17: 27-37.

Harengerd, M. & W. Prünte (1970): Kritische Anmerkungen zur Avifauna Westfalens. Anthus 7: 13-23.

Kühnapfel, K.-H. (1994): Der Limikolendurchzug an der Kläranlage Lünen-Schwansbell, Kreis Unna/Westfalen. Charadrius 30: 15-27.

Mildenberger, H. (1984): Die Vögel des Rheinlandes Band 2. Düsseldorf.

Niermann, H.-G. (1965): Die Vogelwelt der Staustufe Schlüsselburg und ihrer näheren Umgebung. Mitteilungen des Mindener Geschichts- und Museumsvereins 37: 101-120.

Peitzmeier, J. (1969): Avifauna von Westfalen. Münster.

Peterson, R., G. Mountfort & P. A. D. Hollom (1968): Die Vögel Europas. Hamburg/Berlin.

Anschrift des Verfassers

Karl-Heinz Kühnapfel

Heidestr. 25

59174 Kamen-Methler