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VdM 03/2013

Die Fichtenammer von der Neye-Talsperre

Von Klaus Hubatsch

Es war Anfang und Mitte der 1980er Jahre, als ich mit meinem Vater einige Male das Museum Alexander Koenig in Bonn besuchte. Dort befand sich in der Vogelabteilung eine Vitrine, die mein besonderes Interesse weckte. Sie trug eine Tafel mit der Aufschrift „Seltene Vögel im Rheinland“.

Schon lange hatte ich mich besonders für Beobachtungen von seltenen Vögeln interessiert und oft von den Raritäten gelesen, die im Rheinland nachgewiesen worden waren. Hier fand ich sie ausgestopft auf engstem Raum nebeneinander! Da war der Wellenläufer, den Lickefedt 1952 am Rhein bei Bonn gefunden hatte, da stand der Schwarzschnabelkuckuck, der – ebenfalls 1952 – in Köln gegen ein Fenster geflogen war und der bis heute der einzige Nachweis dieser Art für Deutschland und Mitteleuropa ist. Da befanden sich die Erddrossel von 1951 aus Düren und die Weißbrauendrossel von Bonn aus dem Jahr 1901. An weitere Funde kann ich mich nicht erinnern.

Sehr gut erinnern aber kann ich mich noch daran, dass dort auch ein kleiner bräunlicher Vogel stand, den Rolf Mertens am 3. Februar 1962 an der Neye-Talsperre bei Wipperfürth im Oberbergischen Kreis geschossen hatte. Und zwar in seinem eigenen Garten!

Der Zufall wollte es, dass dieser Rolf Mertens ein alter Bekannter meines Vaters war und wir Ende der 1980er Jahre von ihm einige Male in sein Haus an der Neye-Talsperre eingeladen wurden. Das alte Haus lag idyllisch unter einer großen Eiche zwischen der Talsperre und angrenzenden Fischteichen, die Mertens als Fischereimeister im Auftrag der Stadt bewirtschaftete.

Er war aber auch Jäger, und wir wurden bei unseren Besuchen von seiner Frau fürstlich bewirtet mit allen möglichen Arten von selbst geschossenem Wildfleisch. Das Haus war alt und urig und passte gut zu seinen Bewohnern. Die Zimmer waren niedrig, und die Wände und Ecken der Kate waren geschmückt mit Dutzenden von ausgestopften Vögeln, die alle selbst geschossen waren, wie Rolf Mertens stolz berichtete.

Die meisten stammten aus der Türkei, wohin er mit seinem Auto schon etwa 30 Mal gefahren war, sogar bis an die Hänge von Kaukasus und Ararat, also in den äußersten Osten. Mertens war ein Jäger, aber auch ein ausgezeichneter Ornithologe, der mit Wacholderlaubsänger und Schieferfalke sogar zwei Erstnachweise für die Türkei erbracht hatte. Er war eben ein Fossil aus einer anderen Zeit, in der Jäger sein und Ornithologe sein noch kein Widerspruch waren – man denke nur an Heinrich Gätke von Helgoland…

Durch seine warmherzige, urige und authentische Persönlichkeit war mir Rolf Mertens sofort sympathisch, auch wenn seine Methoden aus einer fernen Epoche stammten. Stolz präsentierte er mir einen Ast in einer Ecke seines Hauses, auf dem alle europäischen Würgerarten standen. „Alle selbst geschossen und ausgestopft“, erklärte er stolz.

Bei einem dieser denkwürdigen Besuche kam ich auch auf den bräunlichen Vogel in der Rheinland-Ausstellung im Museum Koenig in Bonn zu sprechen. Mertens hatte ihn am 2. Februar 1962 unter etwa 30 Goldammern an einem Futterplatz vor seinem Haus entdeckt, den er mit Dreschabfällen versorgt hatte. Der Vogel fiel ihm auf, weil er anders war. Nach Studium der Tafeln im „Peterson“-Bestimmungsbuch kam Mertens zu dem Ergebnis, dass es sich um eine Fichtenammer Emberiza leucocephalos handeln müsse. Am folgenden Tag schoss er den Vogel. „Sie hätte ja doch nie wieder in ihre alte Heimat zurückgefunden“, sagte er.

Die Fichtenammer von 1962 im Museum Koenig in Bonn. Fotos: (c) Kathrin Schidelko & Darius Stiels

Die Fichtenammer von 1962 im Museum Koenig in Bonn. Fotos: (c) Kathrin Schidelko & Darius Stiels 

Den Balg gab er später in das Museum Koenig in Bonn ab, wo er in der Rheinland-Vitrine aufgestellt wurde. Es war damals nach Mertens (1962) erst der 4. Nachweis einer Fichtenammer in Deutschland.

Fichtenammern brüten im Taigagürtel West-, Mittel- und Ostsibiriens etwa vom Polarkreis südwärts bis an den Rand der Waldsteppenzone.m Westen ihres Verbreitungsgebietes kommt sie neben der Goldammer vor. Hier gibt es offenbar auch nicht selten Mischbruten. Solche Hybriden wurden schon öfter in Mittel- und Westeuropa nachgewiesen.

Die Fichtenammer ist Mittel- und Langstreckenzieher und überwintert vom Iran ostwärts bis nach China, wobei sie die zentralasiatischen Wüsten und die Hochgebirge meidet. Regelmäßig überwintern Fichtenammern in geringer Zahl aber auch im Nahen und Mittleren Osten und bemerkenswerterweise auch bis heute in Ober- und Mittelitalien (Slack 2009). In West- und Mitteleuropa werden fast alljährlich einzelne Individuen dieser Art beobachtet (Bauer et al. 2005).

In den benachbarten Niederlanden gab es bis 1998 immerhin 30 Nachweise, davon allein 17 von 1980 bis 1998 (van den Berg & Bosman 1999). Seit Erscheinen des Buches sind 4 weitere Nachweise dazugekommen (8. November 1999, 1. November 2004, 13.-16. März 2005, 13. Januar 2008) (www.dutchavifauna.nl/species/witkopgors).

Aus Schleswig-Holstein (ohne Helgoland) konnte Radomski (2009) keine anerkannten Beobachtungen von Fichtenammern auflisten. Auf der roten Felseninsel in der Nordsee dagegen wurden bisher 7 Individuen (6 Männchen und nur 1 Weibchen) gefunden, die erste am 16. April 1881 und die bisher letzte am 19. Oktober 2003 (Dierschke et al. 2011).

Im 2009 erschienenen Band Rabenvögel bis Ammern der „Vögel Niedersachsens und des Landes Bremen“ (Zang et al. 2009) ist keine einzige Angabe einer Fichtenammer aus Niedersachsen zu finden. Auch seit 2009 gibt es keinen anerkannten Nachweis aus diesem großen Bundesland (Detlef Gruber brfl.).

Die Fichtenammer von der Neye-Talsperre war die erste in Nordrhein-Westfalen. Es dauerte mehr als 36 Jahre, bis Axel Müller am 16. und 17. Oktober 1998 bei Erwitte-Eikeloh (Kreis Soest) die zweite finden konnte, ein Weibchen im 1. Kalenderjahr (DSK 2002).

Danksagung: Mein großer Dank geht an Darius Stiels und Johannes Handwerk vom Museum Alexander Koenig in Bonn, die jahrelang immer wieder mal in ein- und ausgelagerten Teilen der riesigen Sammlung nach der Fichtenammer von Mertens gesucht haben, lange ohne jeglichen Erfolg. Im letzten Herbst hat es dann doch endlich geklappt. Dank auch an DS & Kathrin Schidelko für die perfekten Fotos, an Detlef Gruber für Recherchen in Niedersachsen und an Eckhard Möller von der NRW-AviKom.

Literatur

Bauer, H.-G., E. Bezzel & W. Fiedler (2005): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas, Passeriformes – Sperlingsvögel. Wiebelsheim.

van den Berg, A. & C. A. W. Bosman (1999): Rare birds of the Netherlands. Utrecht.

Deutsche Seltenheitenkommission (2002): Seltene Vögel in Deutschland 1998. Limicola 16: 113-184.

Dierschke, J., V. Dierschke, K. Hüppop, O. Hüppop & K. F. Jachmann (2011): Die Vogelwelt der Insel Helgoland. Helgoland.

Mertens, R. (1962): Ein neuer Fichtenammer-Nachweis in Deutschland. Ornithologische Mitteilungen 14: 149-150.

Mildenberger, H. (1984): Die Vögel des Rheinlandes, Band 2. Düsseldorf.

Radomski, U. (2009): Seltene Vogelarten in Schleswig-Holstein und Hamburg. Neumünster.

Slack, R. (2009): Rare Birds Where and When, Vol 1. York.

Zang, H., H. Heckenroth & P. Südbeck (2009): Die Vögel Niedersachsens und des Landes Bremen – Rabenvögel bis Ammern. Naturschutz und Landschaftspflege in Niedersachsen Sonderreihe B Heft 2.11. Hannover.

Anschrift des Verfassers:

Klaus Hubatsch

Hombergen 68

41334 Nettetal