VdM 09/2016
Die Schelladler von Nordrhein-Westfalen
Von Eckhard Möller
In der Woeste, dem ausgedehnten ehemaligen Niedermoor im Kreis Soest, waren die Kiebitze ungewöhnlich nervös, als Pascal Eckhoff (damals Wuppertal) am 23. Oktober 2005 dort eintraf, um Vögel zu beobachten. Nach kurzer Zeit wurde ihm dann auch der Grund für ihre Nervosität klar: Über der Wasserfläche kreiste ein relativ großer Adler, der wohl vorher in den Bäumen gesessen und möglicherweise dort auch übernachtet hatte.
Als Erstes fiel dem Beobachter die Färbung der Oberseite auf: Große weiße Flecken auf dem Armdecken und eine weißes „U“ auf der Schwanzwurzel stachen von der sonst dunklen Gesamtfärbung hervor. Der Schnabel war leuchtend gelb. Es war ein junger Schelladler (Aquila clanga). Weitere sofort alarmierte Birder eilten herbei und konnten den seltenen Gast bestätigen. Dabei entstanden auch die Fotos (Abb. 1-5).
Abb. 1-5 Der junge Schelladler in der Woeste (Kreis Soest) Oktober 2005. Fotos: Joachim Drüke.
Der Schelladler von der Woeste wurde von der Deutschen Seltenheitenkommission anerkannt (DSK 2008).
Am folgenden Tag konnte er trotz Nachsuche nicht mehr bestätigt werden. Es war bis heute der Letzte seiner Art, der in Nordrhein-Westfalen gesehen wurde.
Es gibt danach aber eine fortlaufende Reihe von Nachweisen, die sich alle auf ein einzelnes Individuum beziehen, das den Spitznamen „Tönn“ erhalten hatte. Der Vogel wurde 2008 in Estland als Küken beringt und mit einem Sender versehen, der viele Jahre Daten lieferte.
Vom 18. bis zum 20. April 2009 überquerte Tönn, jetzt im 2. Kalenderjahr, unser Bundesland in nördlicher Richtung (AviKom 2010). Dabei – und auch in den Folgejahren – hat offenbar kein Beobachter den Adler sehen können.
Auf dem Wegzug 2010 flog er wieder über NRW: „Nach einer Übernachtung bei Emsdetten am 5.10. machte er am 6./7.10. zwei Tage Station bei Warendorf in Nordrhein-Westfalen. Der nächsten Kurzetappe in die Nähe von Hilden am 8.10. folgte ein erneuter Ruhetag, bevor er dann am 10.10. vorbei an Bergheim und Aachen die deutsche Grenze Richtung Holland überquerte.“ (DAK 2010: 19).
Ein Jahr später flog der Schelladler am 14. Oktober im Raum Rheine nach NRW ein und verbrachte die Nacht dann bei Gescher (Kreis Borken). Am 15. Oktober zog er von Rhede BOR über Hamminkeln, Xanten (Kreis Wesel) und Weeze (Kreis Kleve) nach Eindhoven in den benachbarten Niederlanden (AviKom 2012).
Am 18. September 2012 wurde der Adler, jetzt schon im 5. Kalenderjahr, bei Porta Westfalica (Kreis Minden-Lübbecke) geortet, wo er in der Region die Nacht verbrachte. Am Folgetag überquerte er auf dem Weg nach Süden den Kreis Höxter (AviKom 2013).
Zum letzten Mal wurde der Schelladler dann am 23. August 2013 aus NRW gemeldet, als er bei Osnabrück die Landesgrenze überquerte. Er übernachtete im nördlichen Westfalen und zog dann nahe Ascheberg (Kreis Coesfeld), über Recklinghausen, Duisburg und Nettetal (Kreis Viersen) Richtung Niederlande (AviKom 2014).
Der älteste Nachweis eines Schelladlers in unserem Bundesland stammt aus dem 19. Jahrhundert: Im Dezember 1891 wurde einer bei Senden (Kreis Coesfeld) geschossen (Peitzmeier 1969).
Am 1. November 1901 erhielt der kundige Präparator Rudolph Koch (1855-1927) in Münster einen bei Horneburg (Kreis Recklinghausen) geschossenen Schelladler, „ein prachtvolles Stück im Jugendkleid“ (Koch 1902, Peitzmeier 1969). Über den Verbleib des Balgs ist nichts bekannt. Bei Wemer (1906) wird der Vogel als „“Gelbbrauner Adler Aquila clanga fulvescens“ aufgeführt. Ob es tatsächlich ein Individuum der seltenen hellen Form ‚fulvescens‘ (was unwahrscheinlich ist) oder vielmehr ein junger Vogel mit „largely pale tawny“ (Forsman 2016) Unterseite war, lässt sich heute nicht mehr klären.
Nur zwei Tage später wurde ein Schelladler bei Kirchberg unweit Jülich (Kreis Düren) geschossen (le Roi 1906, dort als Schreiadler aufgeführt). Sein Balg wurde bei E. Huth in Kirchberg aufgestellt und gelangte dann später in die Sammlung des Erkelenzer Ornithologen Edmund Knorr (1885-1979). Im Zweiten Weltkrieg ging er verloren (Neubaur 1957; Neubaur hat das Präparat selbst untersucht).
Im November 1914 wurde ein junger weiblicher Schelladler in Birkelbach bei Erndtebrück (Kreis Siegen-Wittgenstein) getötet. Das „Belegstück“ befand sich lange in Privatbesitz des Präparators Spies in Girkhausen bei Berleburg (Reichling 1932); ob es derzeit noch existiert, ist nicht bekannt. Hermann Reichling, damals Ornithologe am Naturkundemuseum in Münster, führte diesen Vogel in seinen „Beiträgen zur Ornis Westfalens“ (1932) als Schreiadler auf. Der westfälische Greifvogel-Experte Carl Demandt hat den Balg aber 1954 untersucht und als Schelladler bestätigt (Peitzmeier 1969).
Am 7. Dezember 1914 wurde bei Moers (Kreis Wesel) ein ermatteter Schelladler von Hugo Otto gefangen (Neubaur 1957, Mildenberger 1982). Über sein weiteres Schicksal ist nichts bekannt.
Am 20. Oktober 1920 konnte ein Bergmann im Baerlerbusch bei Moers einen Schelladler fangen, den er dann an den Kölner Zoo verkaufte (Neubaur 1957, Mildenberger 1982).
Weitere Angaben zu Schelladlern in den nordrhein-westfälischen Avifaunen gelten heute als zweifelhaft und nicht gesichert. Am 15. und 26. Mai 1938 wurde angeblich ein adultes Individuum über dem Radbodsee bei Hamm beobachtet (Peitzmeier 1969). Vom 8. Mai bis Mitte Juni 1938 gibt es von dort aber Angaben über einen Schreiadler (Harengerd & Prünte 1970).
Bei Mildenberger (1982) sind 3 Angaben von 1950, 1955 und 1963 von der Neyetalsperre (Oberbergischer Kreis) aufgeführt, die auf Lehmann & Mertens (1965) zurückgehen. Herkenrath (2005) hat sich kritisch mit den Angaben zu Schelladlern und Schreiadlern von dort auseinandergesetzt: „Sie genügen den heutigen Ansprüchen nicht mehr“, schreibt er zusammenfassend.
Bei unseren rheinland-pfälzischen Nachbarn im Süden gibt es nur einen gesicherten Nachweis (ohne den besenderten „Tönn“): Am 27. Oktober 1892 wurde ein Schelladler im 4. oder 5. Kalenderjahr bei Hackenheim (Landkreis Bad Kreuznach) geschossen (Dietzen 2016).
Danksagung: Mein Dank geht an Peter Herkenrath für umfassende Auskünfte über das Bergische.
Literatur
AviKom (2010): Seltene Vogelarten in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2009. Charadrius 46: 137-154.
AviKom (2012): Seltene Vogelarten in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2011. Charadrius 48: 97-114.
AviKom (2013): Seltene Vogelarten in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2012. Charadrius 49: 1-14.
AviKom (2014): Seltene Vogelarten in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2013. Charadrius 50: 113-126.
Deutsche Avifaunistische Kommission (2010): Seltene Vogelarten in Deutschland 2010. Seltene Vögel in Deutschland 2010: 10-49.
Deutsche Seltenheitenkommission (2008): Seltene Vogelarten in Deutschland von 2001 bis 2005. Limicola 22: 249-339.
Dietzen, C. (2016): Schelladler Aquila clanga PALLAS, 1811. In: C. Dietzen et al.: Die Vogelwelt von Rheinland-Pfalz, Band 3, 33-34. Landau.
Forsman, D. (2016): Flight identification of Raptors of Europe, North Africa and the Middle East. London.
Harengerd, M. & W. Prünte (1970): Kritische Anmerkungen zur Avifauna Westfalens. Anthus 7:13-23.
Herkenrath, P. (2005): Nachweise seltener Vogelarten im Oberbergischen Kreis – eine Ergänzung zu KOWALSKI & HERKENRATH (2003). Berichtsheft der Arbeitsgemeinschaft Bergischer Ornithologen 47: 4-14.
Koch, R. (1902): Mitteilung. Jahresberichte der Zoologischen Sektion des Westfälischen Provinzial-Vereins für Wissenschaft und Kunst XXX: 54.
Lehmann, H. & R. Mertens (1965): Die Vogelfauna des Niederbergischen. Jahresberichte des Naturwissenschaftlichen Vereins Wuppertal 20: 11-164.
Mildenberger, H. (1982): Die Vögel des Rheinlandes, Band 1. Düsseldorf.
Neubaur, F. (1957): Beiträge zur Vogelfauna der ehemaligen Rheinprovinz. Decheniana 110: 1-278.
Peitzmeier, J. (1969): Avifauna von Westfalen. Münster.
Reichling, H. (1932): Beiträge zur Ornis Westfalens und des Emslandes. Abhandlungen aus dem Westfälischen Provinzialmuseum für Naturkunde 3: 307-362.
le Roi, O. (1906): Die Vogelfauna der Rheinprovinz. Verhandlungen des Naturhistorischen Vereins der preußischen Rheinlande und Westfalens 63: 1-325.
Wemer, P. (1906): Beiträge zur westfälischen Vogelfauna. Jahresberichte des Westfälischen Provinzial-Vereins für Wissenschaft und Kunst 34: 58-89.
Anschrift des Verfassers:
Eckhard Möller
Stiftskamp 57
32049 Herford