VdM 11/2017
Der Dunkellaubsänger von Münster
von Holger Lauruschkus
Es gibt so Tage als Vogelbeobachter, an denen man glaubt, alles richtig gemacht zu haben und an denen man das Glück vermeintlich gepachtet hat. Der 7. Oktober 2015 war so ein Glückstag und sollte unvergesslich werden!
Es war ein sonniger, goldener Oktobertag um die 17°C in Münster. Mich zog es am Morgen unweigerlich gleich in das Europareservat Rieselfelder Münster, meiner ornithologischen „Home Range“ fast direkt vor der Tür. Heute muss doch was zu machen sein in den Rieselfeldern: Es ist Anfang Oktober, beste Zugvogelzeit! Motiviert und konzentriert fuhr ich mit dem Fahrrad die Wege zwischen den Wiesen- und Wasserflächen ab, die Bereiche sorgfältig mit Spektiv und Fernglas nach gefiederten Gästen absuchend, mit dem Vorsatz eine mögliche Rarität zu entdecken.
Gegen 10:30 Uhr kam ich schließlich bei meinem Rundgang in den Bereich des 22er-Komplexes am Wöstebach am Südwest-Ende der Rieselfelder (der genaue Gebietsplan einzusehen unter www.rieselfelder-muenster.de). Ich ging den rumpeligen Feldweg vor der 22/B – 22/7 Fläche entlang, um in den umstehenden Weidenbüschen und Bäumen nach Kleinvögeln zu suchen. Vor allem hatten es mir die Laubsänger angetan. Viele Zilpzalpe (Phylloscopus collybita) und einige Fitisse (Ph. trochilus) wuselten durch die dichte Vegetation.
Vielleicht ist ja mal ein bunter sibirischer Verwandter unter den olivfarbenen Mitteleuropäern zu finden? Ich hatte mir tatsächlich vorgenommen, endlich mal einen Gelbbrauen-Laubsänger (Phylloscopus inornatus) oder gar Goldhähnchen-Laubsänger (Ph.proregulus) für Münster nachzuweisen. Beide Arten waren bis dahin hier noch nicht beobachtet worden. Anfang Oktober erschien optimal für die Nachsuche, zumindest für Gelbbrauen-Laubsänger. Aktuell wurde aus zahlreichen Orten in Deutschland, vor allem von Helgoland, diese Art in teilweise beachtlichen Zahlen gemeldet. Warum sollte daher ein Nachweis nicht auch mal in Münster gelingen, zumal in Dortmund und in Duisburg erst kürzlich je ein Gelbbrauen-Laubsänger gesichtet worden war?
Als ich die Laubsänger-Schar in den Büschen sorgfältig durchmusterte, vernahm ich auf einmal ein, zwei „trockene“ scharfe „teck“-Laute aus dem dichten Schilfstreifen direkt am Weg kaum zehn Meter entfernt. Elektrisiert blieb ich sofort stehen, und sogleich schoss es mir durch den Kopf: Klappergrasmücke (Sylvia curruca) oder Dunkellaubsänger (Phylloscopus fuscatus), vielleicht noch Buschspötter (Iduna caligata)! Dieses scharfe „teck“ war so eindeutig, dass für mich nur diese Vögel als Urheber in Frage kamen. Mönchsgrasmücke (Sylvia atricapilla) schloss ich gleich aus.
Dunkellaubsänger habe ich bereits vier Mal auf Helgoland gesehen und auch gehört. Diese Rufe hier klangen genauso wie die Rufe damals auf Helgoland (vergleiche auch calls Dusky Warbler auf www.xeno-canto.org)!
Doch Vorsicht, die Klappergramücke hat sehr ähnliche Rufe. Eine Klappergramücke Anfang Oktober in Münster ist aber eigentlich recht ungewöhnlich, normalerweise sollte sie zu diesem Zeitpunkt schon abgezogen sein. Aber man weiß ja nie, ich musste unbedingt den versteckten Rufer ausfindig machen, um letzte Zweifel auszuräumen: Entweder doch noch eine späte Klappergrasmücke (vielleicht ja eine sogenannte „sibirische“?) oder tatsächlich ein Dunkellaubsänger.
Der Vogel stellte mich auf eine harte Geduldsprobe. Ich hörte ihn mehrfach aus dem dichten Weiden- Schilfdickicht vor mir rufen, sah aber nichts. Ich stand so etwa 45 Minuten vor dem Gebüsch, ohne dass ich den Vogel zu sehen bekam. Er bewegte sich rufend etwas nach rechts durch das Dickicht zu mir hin auf eine Sichtschneise zu. Hier sah ich meine Chance, endlich den Rufer zu Gesicht zu bekommen, sofern er die Richtung beibehielt.
Der Dunkellaubsänger von Münster. Foto: Torve Christiansen
Und tatsächlich, direkt am Rande der Sichtschneise am Wasser in einem halbwegs offenen niedrigen Weidenbusch kaum 8 Meter entfernt, sah ich auf einmal einen kleinen braunen Vogel aufgeregt einen waagerecht verlaufenden Weidenzweig entlanghüpfen, dabei heftig mit den Flügeln zuckend und gereihte „teck“ Rufe ausstoßend. Das war er also! Ich sah sogleich, dass es ein Laubsänger war, sah eine einheitlich gefärbte graubräunliche “rostige“ Oberseite, eine verwaschen graubraune Unterseite ohne Gelbtöne (auch kein Gelb auf Unterschwanzdecken), schlanke, braun-rötliche Beine und einen langen, auffallenden scharf abgesetzten weiß-beigen Überaugenstreif, vor dem Auge am hellsten. Ein schwarzer Augenstreif begrenzte deutlich den Überaugenstreif nach unten. Das war eindeutig ein Dunkellaubsänger! Zweifel ausgeschlossen! Da hatte sich ja der heutige Rieselfelder-Besuch mal wieder richtig gelohnt!
Ich konnte den hektischen Vogel etwa 5 Sekunden lang sehr gut aus der Nahdistanz beobachten und alle artdiagnostischen Merkmal studieren, bevor er wieder nach hinten in die Vegetation abtauchte und dort verschwand.
Etwas benommen ob dieser besonderen Beobachtung setzte ich eine Club300-Meldung ab und rief dann mit dem Handy Christian Schulte an, der ebenfalls in den Rieselfeldern weilte. Er eilte auch gleich herbei. Doch der Laubsänger blieb verschwunden und wurde von uns nur noch einige Male aus der Distanz aus Fläche 22/B verhört. Ich dachte bereits, das war’s dann wohl. Typisch Dunkellaubsänger, kurze Beobachtung und dann auf Nimmerwiedersehen verschwunden. So kannte ich es auch von Helgoland.
Doch wir sollten etwas später sehr positiv überrascht werden. Ich fand den Vogel zusammen mit Peter Neumann, der zufälligerweise gerade auch dort stand, gegen 13:35 Uhr tatsächlich etwa 100 Meter entfernt am Rande der nördlich gelegenen Fläche 22/D am Wöstebach wieder. Hier hörten wir den Vogel wieder aus dem dichten Gebüsch am Wegesrand rufen und konnten ihn auch kurz sehen. Unvermittelt flog der Laubsänger auf einmal aus seiner Deckung auf und in einem hohen Bogen mehrmals rufend zurück auf seine alte Fläche 22/B.
Mittlerweile waren die ersten Beobachter, durch die Club300-Meldung bzw. durch weitere Telefonate informiert, eingetroffen und hatten sich vor der Fläche postiert. Die Schar auf dem Feldweg wuchs in der Folgezeit stetig an. Der Vogel blieb aber weiterhin unsichtbar und konnte nur gehört werden. Gegen 15 Uhr gelang einigen Beobachtern eine kurze Sichtbeobachtung.
Dem Dunkellaubsänger schien es in seinem Ersatzquartier in den Rieselfeldern recht gut zu gefallen. Das dichte Weidengebüsch-Schilfdickicht mit Krautschicht nahe am Wasser im Offenland entsprach wohl ganz seinen Ansprüchen an das Brut- und Rastbiotop in seiner sibirischen Heimat. Immerhin drei Tage bis zum Morgen des 10. Oktober 2015 harrte er auf Fläche 22/B aus. Gegen 8:45 Uhr am 10. Oktober gelang die letzte Sichtung u.a. durch Henning Kunze (Hamburg) nahe am Hauptweg Am Wöstebach an Fläche 22/7, von hier flog der Laubsänger nach Ost in das Reservat ab auf Fläche 21/D, wo er in dem Schilfkomplex verschwand und nicht mehr gesehen wurde.
Zahlreiche Vogelfreunde aus nah und fern sind in diesen Tagen im Oktober 2015 nach Münster gekommen, alle haben wohl den Dunkellaubsänger zumindest gehört, einige auch mehr oder weniger gut gesehen. – Was soll man da noch nach Helgoland fahren, wenn man auch bei uns im Binnenland mit solchen Raritäten rechnen kann! –
Der Vogel blieb die ganze Zeit sehr heimlich, Fotos gelangen nur Torve Christiansen und Oliver Brockmann aus Bremen. Der Dunkellaubsänger fand seinen Weg sogar in die lokale Presse. In den Westfälischen Nachrichten (WN) aus Münster ist ein Artikel mit dem Titel „Irrläufer aus Fernost“ zu dieser außergewöhnlichen Beobachtung erschienen (www.wn.de/mediathek/dunkellaubsaenger).
Natürlich ist er auch auf der lokalen Internetplattform der Vogelbeobachter von Münster www.msorni.de entsprechend gewürdigt worden.
Der Dunkellaubsänger ist von der Avifaunistischen Kommission NRW anerkannt worden. Er war den Erstnachweis für Münster und auch für Nordrhein-Westfalen.
Dunkellaubsänger sind häufige Brutvögel in feuchten, verbuschten Wiesen, Weiden,
Verlandungszonen, Bachauen, Taigamooren von Mittelsibirien, Ostsibirien bis Nordost-China. Die Hauptüberwinterungsgebiete liegen im subtropischen und tropischen Südost-Asien von Süd-China bis hinunter nach Malaysia, Thailand und den Philippinen.
Allerdings gelangen jedes Jahr im Herbst auch recht viele Vögel nach Westen bis nach Europa, wo sie vor allem in den Küstenregionen von Skandinavien, Großbritannien und auch Deutschland nachgewiesen werden. Eventuell sind genetische Fehlprägung von Einzelvögeln und/oder doch ein mehr oder weniger regulärer Wegzug von einzelnen (Teil-)Populationen Ursache für diese westwärts gerichtete Wanderbewegungen. Normalerweise sollte der Zugweg vom sibirischen Brutgebiet aber nach Süden führen.
Wie viele Dunkellaubsänger tatsächlich nach Norddeutschland gelangen, zeigen folgende Zahlen: So sind z.B. auf Helgoland bis 2016 insgesamt 21 Dunkellaubsänger gemeldet worden, 13 allein seit 2006, nur in den beiden Jahren 2010 und 2014 gelangen seit 2006 keine Nachweise. Helgoland ist natürlich wegen seiner vergleichsweise geringen Größe und der im Herbst oft beachtlichen großen Beobachter- und Ornithologenzahl prädestinert für das Auffinden seltener Arten. Hier wird so ziemlich jeder Vogel aufgespürt.
Im übrigen Nordsee-Umfeld werden wegen Größe und Unübersichtlichkeit des abzudeckenden Gebietes und viel geringerer Beobachterdichte erheblich weniger Laubsänger (und andere Singvogel-Raritäten) entdeckt, obwohl wahrscheinlich auch hier viele dieser seltenen Arten durchkommen, die aber nur vereinzelt mal gefunden werden.
Noch größer dürfte die Dunkelziffer im küstenfernen Binnenland sein, auch wenn die Mehrheit der Dunkellaubsänger wahrscheinlich den Küstenlinien von Ost- und Nordsee folgt. Die Binnenlandweise (wie auch die der anderen sibirischen Laubsänger mit Ausnahme vom Gelbbrauen-Laubsänger) sind äußerst spärlich.
Umso bemerkenswerter ist daher der Nachweis eines Dunkellaubsängers am 7. Oktober 2015 aus den Rieselfeldern Münster.
Literatur:
Bauer, H.-G., E. Bezzel & W. Fiedler (2005): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas, Passeriformes. Wiebelsheim.
Dierschke, J., V. Dierschke, O. Hüppop, K. Hüppop & K. F. Jachmann (2011): Die Vogelwelt der Insel Helgoland. Helgoland.
OAG Helgoland (2016): Ornithologischer Jahresbericht Helgoland 26. Helgoland.
Svensson, L., K. Mullarney & D. Zetterström (2011): Der Kosmos Vogelführer. Stuttgart.
www..xeno-canto.org Dusky Warbler. calls
Anschrift des Verfassers:
Holger Lauruschkus
Grevener Str. 351
48159 Münster