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VdM 01/2019

Unser Winter mit der Klappergrasmücke

Von Silvia Verwiebe

Es begann Ende November 2017 in unserem Garten in Bielefeld-Schildesche. Vor unserem Lieblingsessplatz hinter der großen Schiebetür zur Terrasse, auf der schon ein Vogelhaus stand, brachte Christian einen mit Mehlwürmern versetzten Fettblock an. Eines Sonntags, während des gemütlichen Wochenendfrühstücks, fiel er uns zum ersten Mal auf: Ein kleiner, recht unscheinbar gefärbter Vogel mit spitzem Schnabel, der, mit Zwischenstopp in unserer Zirbelkiefer, den Fettblock aufsuchte (Abb. 1, 2). Für einen Zilpzalp oder Fitis war er etwas zu groß, und die Grasmücken waren schon längst Richtung Süden abgezogen, wer also konnte das sein?

  

Abb. 1,2 Der unbekannte Vogel (Fotos: Silvia Verwiebe)

Na ja, der Piepmatz war dann wieder weg und aus unserem Sinn. Bis zum nächsten Wochenende, als wir das vorsichtige Vögelchen erneut während des Frühstücks beobachten konnten (Abb. 3-5). Ist es doch ein Zilpzalp? Oder eine Grasmücke?? Christian gelang es, durch die Fensterscheibe ein paar Fotos zu schießen, die wir später mit einer Vogelbestimmungs-App abglichen. Auch wenn die Rückenfärbung nicht ganz passte, kam Christian zu dem Schluss, dass es sich bei dem Vogel um eine Klappergrasmücke (Sylvia curruca) handeln musste.

   

Abb. 3,4 Der winterliche Garten, Fettblock markiert (Fotos: Silvia Verwiebe 10.12.2017)

Abb. 5 Fettfutter als Winternahrung (Foto: Eckhard Möller 13.1.2018)

Ich hingegen zweifelte trotz vieler Übereinstimmungen daran, weil die doch schon längst zum Überwintern nach Ostafrika abgezogen sein sollten. Des Rätsels Lösung ergab sich zwischen den Jahren, als Barbara und Michael von Tschirnhaus bei uns zum Essen eingeladen waren. Wir erzählten von unserem besonderen Gast und auch der Vermutung, dass es sich um eine Klappergrasmücke handeln könnte (Abb. 6,7). Dr. von Tschirnhaus als erfahrener Ornithologe widersprach energisch mit den Worten. „Das kann nicht sein!“ Aber als Christian ihm die Fotos zeigte, entfuhr ihm überrascht: „Das ist eine Klappergrasmücke! Das ist eine Sensation!“. Michael als langjähriger Vogelberinger schlug vor, den Vogel gelegentlich zu fangen, um ihn zu beringen und um DNA-Material zu gewinnen.

  

Abb. 6, 7 Die Klappergrasmücke (Fotos: Holger Bekel 12./13.1.2018)

Bevor es dazu kam, meldete ich den Vogel bei der „Stunde der Wintervögel“ des NABU und erhielt die Antwort, dass meine Online-Meldung aufgrund eines Tippfehlers oder der Nennung eines bisher nicht in der Liste aufgeführten Vogels nicht automatisch freigeschaltet werde. So ein Fall würde grundsätzlich zunächst von einem Experten des NABU auf Plausibilität geprüft. Als zwei Tage lang nichts passierte, schickte ich eine Mail mit drei Belegfotos hinterher und erhielt fast postwendend eine Dankes-Mail mit den Worten „…ohne diese Belege hätten wir Ihnen ehrlich gesagt die Klappergrasmücke nicht abgenommen.“ Das hat uns natürlich sehr amüsiert und gefreut!

So, nun musste noch die Vogelberingung vor Michael von Tschirnhaus‘ Abreise nach Chile organisiert werden, die in wenigen Tagen anstand. Ein erster Fangversuch blieb erfolglos, aber der inzwischen informierte Eckhard Möller motivierte Michael, diese Aktion unbedingt vor seiner Reise zu wiederholen, nicht, dass der kleine Vogel bis zur Rückkehr verschwunden wäre! Wir einigten uns auf einen Samstagmorgen Mitte Januar, und als sich dann aufgrund der Meldung auf der NABU-Seite auch noch ein alter Bekannter, Holger Bekel, meldete, wurde spontan ein kleines Ornithologen-Frühstück organisiert.

Pünktlich um 8 Uhr sollte es losgehen, die Netze hatten Christian und Michael schon am Vorabend in unserem Garten aufgestellt und wegen der Feuchtigkeit mit Müllsäcken abgedeckt. Alle waren pünktlich, Holger ausgestattet mit Fernglas und Büchern, Michael mit Fernglas und zwei großen Taschen mit allem, was man für das Beringen braucht: etliche Vogelringe in verschiedenen Größen, entsprechende Zangen, kleine Stoffbeutel für das kurzfristige Aufbewahren der gefangenen Vögel, Messstab, Waage, Notizbuch und weiteres. In der Morgendämmerung saßen wir im unbeleuchteten Wohnzimmer am langen Tisch, alle mit gespanntem Blick nach draußen und brötchenkauend. Aber wer tauchte als erstes im Garten auf? Unsere Katze, von ihrem frühmorgendlichen Ausflug zurückkehrend und interessiert an einer der Netzstangen schnuppernd. Nach einigem Zögern ließ sie sich mit ihrem Lieblingsfutter reinlocken, dann wurden sämtliche Katzenklappen gesichert und Patita zu ihrem Leidwesen im Hausflur eingesperrt.

Kurz darauf flogen drei Meisen und ein Rotkehlchen ins Netz, jeweils schnell von Michael befreit und zwecks späterer Beringung in einzelnen Stoffbeuteln an Schranktürgriffen in unserem Wohnzimmer aufgehängt. Und dann endlich kam sie, unsere herbeigesehnte Klappergrasmücke! Aber zu unserer Verblüffung flog sie so hoch wie nie über die Netze hinweg in die Spitze der Zirbelkiefer, hüpfte von dort langsam tiefer bis auf Höhe des Speckblocks, flog ihn schnell an, kehrte nach kurzem Picken zur Zirbel zurück und verschwand, wieder hoch über die Netze fliegend, Richtung Baum- und Buschbestand der gegenüberliegenden Schule.

Wir beratschlagten etwas irritiert und ratlos, was zu tun sein, als es an der Haustür klingelte. Es war unser Nachbar, der darum bat, das von unserem Besuch in der gemeinsamen Garagenzufahrt geparkte Auto wegzufahren, da er ein Date im Fitnessstudio hätte und nicht aus seiner Garage rausfahren könnte. So eine Störung konnten wir jetzt überhaupt nicht gebrauchen! Michael, der Falschparker, war gerade dabei, hektisch alle möglichen Hosen-, Jacken und sonstige Taschen nach seinem Autoschlüssel abzusuchen, als die Klappergrasmücke wieder über die Netze hinweg angeflogen kam und sich am Fettblock gütlich tat. Doch unser hektisches Treiben hinter der Fensterscheibe schien sie zu irritieren und prompt flog sie weg und auf ihrer gewohnten Flugbahn direkt ins Netz!

Schnell eilte Michael nach draußen und befreite den kleinen Vogel behutsam aus seiner misslichen Lage. Der erste Schritt war geschafft, wir waren begeistert! Nach dem Vermessen und Wiegen versah Michael sie mit dem passenden Ring, alles wurde sorgfältig in sein Notizbuch geschrieben (Abb. 8-10). Der Kot kam zwecks DNA-Analyse in ein kleines Röhrchen, ein paar Fotos konnten wir ebenfalls schießen. Gerade noch rechtzeitig kam der von Holger informierte Eckhard Möller aus Herford angerauscht und hat sich von uns über das aufregende Geschehen berichten lassen. Auch Eckhard schoss ein paar Fotos, dann durfte „unsere“ Mücke endlich abzischen. Den Rest des Tages hat sie sich nicht mehr bei uns blicken lassen, Christian und ich machten uns schon Sorgen, dass die kurzfristige Gefangennahme sie aus unserem Garten vertrieben hätte. Doch zu unserer Beruhigung tauchte der kleine Vogel am Sonntagmorgen wieder auf und labte sich am Fettblock. Gelegentlich schüttelte er kurz sein beringtes Beinchen, ansonsten verhielt er sich wie immer. Unsere Freude war groß!

     

Abb. 8-10 Die Klappergrasmücke in der Hand am 13.1.2018 (Fotos: Holger Bekel/Eckhard Möller)

Fortan konnten wir die Klappergrasmücke zumindest am Wochenende regelmäßig am Fettblock und am Futterhaus beobachten. In der Woche waren wir tagsüber selten zuhause, aber eine Wildkamera schaffte Abhilfe. Alle drei Minuten löste sie bei Bewegung aus und so konnte unser besonderer Gast der genauen Beobachtung nicht mehr entgehen. Am 18. April 2018 um 13.35 Uhr wurde sie das letzte Mal abgelichtet (Abb. 11), seitdem ist sie verschwunden. Ob sie im nächsten Winter wohl wieder in unserem Garten auftaucht? Wir sind gespannt!

Abb. 11: Der letzte Nachweis mit der Wildkamera am 18.4.2018.

Inzwischen ist auch klar, dass die DNA-Daten „unserer“ Klappergrasmücke eindeutig die Bestimmung als Sylvia curruca blythi aus Sibirien zulassen! Elke Hippauf hat die genetische Laborarbeit an der Uni Bielefeld durchgeführt.

Die DNA-Sequenzen wurden dann durch Jan Ole Kriegs am LWL-Museum für Naturkunde in Münster analysiert und mit bekannten Sequenzen aus der Genbank verglichen. So konnte die mitochondriale DNA des Vogels eindeutig dem Taxon Sylvia curruca blythi zugeordnet werden. Die mitteleuropäische Nominatform curruca oder andere östliche Formen wie halimodendri, althaea oder minula sind demnach auch genetisch auszuschließen. Das erklärt auch die gleichmäßig graue Kopf- und Rückenfärbung im Gegensatz zu den mitteleuropäischen Klappergrasmücken, die meist einen deutlich braunen Rücken haben.

Kein Wunder, dass uns das Vögelchen anfangs beim Bestimmen so verwirrt hat! Es war der erste Nachweis dieses Taxons in Nordrhein-Westfalen.

 

Anschrift der Verfasserin:

Silvia Verwiebe,

Universität Bielefeld, Fakultät für Biologie

Postfach 100131

33501 Bielefeld